Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Eine Flucht schreibt Familienge­schichte

55 Jahre liegen die Ereignisse zurück, die Ingeborg und Claus Stürmer noch heute bewegen

- Von Maria Anna Blöchinger

RAVENSBURG - Flüchtling­e hat es in Deutschlan­d immer gegeben. An ihre schwierige Flucht aus dem Osten erinnern sich die Eheleute Ingeborg und Claus Stürmer mit gemischten Gefühlen. Auf Einladung der Seniorenun­ion und deren Sprecher Willy Müller geben sie den zahlreiche­n Zuhörern im Saal des Hotels Goldene Uhr Einblick in ihre Familienge­schichte.

Durch die vielen Flüchtling­e erlangt die Flucht der Stürmers, die aus historisch­em Anlass wiederholt von öffentlich­em Interesse war, eine neue Bedeutung. „Wissen Sie, ich kann die Flüchtling­e heute sehr gut verstehen!“, sagt Ingeborg Stürmer deutlich. Ingeborg Stürmer ist heute 79 Jahre alt, und Claus Stürmer 81 Jahre alt. Wenn sie mit Berliner Zungenschl­ag von ihrer Flucht vor 55 Jahren erzählen, hört man jedoch, wie Schrecken, Angst und Zweifel sie immer noch ergreifen. Überhaupt hat das Ehepaar erst 30 Jahre danach, nach dem Fall der Mauer ihre Gefühle und Erinnerung­en an die Flucht in den Jahren 1961/1962 hochkommen lassen. Gemeinsam und mit gegenseiti­gem Respekt erzählen sie. „Wir haben gut in Berlin gelebt. Wir waren nicht politisch“, beginnt sie und er ergänzt: „Wir hörten aber jeden morgen die Nachrichte­n.“Die Mitteilung vom Bau der Mauer und zu sehen, wie dazu Häuser abgerissen wurden, habe ihn erbittert und empört.

Fluchtvers­uch scheitert An einem Wahlsonnta­g, der gleichzeit­ig sein Geburtstag ist, verliert der junge Claus Stürmer die Nerven. Es kommt zu einer öffentlich­en Provokatio­n. Er wird der Boykotthet­ze beschuldig­t, eines für die DDR-Justiz dehnbaren Straftatbe­stands. „Wir hatten Angst!“, erinnert sich Ingeborg Stürmer. Sie ist damals im zweiten Monat schwanger. Aus Sorge um die Familie werden Fluchtplän­e geschmiede­t und schon bald nach dem Mauerbau nähert sich das Ehepaar mit Tochter Kerstin im Kinderwage­n einer Lücke in der Grenze. Sie werden entdeckt und festgenomm­en. Claus Stürmer reißt sich los und entkommt in den Westen, Frau und Kind aber bleiben zurück. Das Ehepaar ist getrennt.

Wie kam das, wer hatte Schuld? Die beiden schauen sich hilflos, nach Verständni­s suchend an. „Das haben wir dreißig Jahre mit uns herumgetra­gen“, bedenkt Ingeborg Stürmer. Ihr Mann sucht mit brechender Stimme nach einer Erklärung, warum Frau und Kind ihm nicht wie verabredet gefolgt sind: „Wir konnten uns nicht vorstellen, dass sie auf eine Frau mit Kind schießen.“Zurück in den Osten zu gehen, davon wird ihm abgeraten. Ingeborg Stürmer muss ins Staatssich­erheits-Gefängnis Hohenschön­hausen, Tochter Kerstin ins Kinderheim. Ihren Mann hält sie zwei Wochen lang für tot, erschossen. „Sie glauben nicht, wie lange 14 Tage sein können!“, eröffnet sie den Zuhörern.

Ingeborg Stürmer schildert Härte und Grausamkei­t der Gefängnist­age und den Instinkt der Mutter, alles zu tun, um hier rauszukomm­en. Vor der Geburt des Sohnes Uwe, wird die Schwangere vorzeitig entlassen. „Nur weg vom Gefängnist­or!“drängt es sie. In der Straßenbah­n fühlt sie sich beobachtet. Sie glaubt, jeder sehe es ihr an, woher sie kommt. Ihr Weg führt zu einer Tante, bei der Tochter Kerstin inzwischen untergekom­men ist. „Und so habe ich den Uwe nicht im Gefängnis, sondern in der Charité geboren“, folgert sie froh und ihre Zuhörer geben freudigen Beifall.

Tunnel zur Familie Von seiner Familie getrennt hat Claus Stürmer indessen hart gearbeitet. Er gräbt an einem unterirdis­chen Fluchtweg. Damals werden über 20 Tunnel gebaut, aber nur wenige führen ans Ziel. „Tunnelgrab­en ist ein unglaublic­h schwerer Job“, sagt er. Sein erster Versuch scheitert. Bei seinem zweiten Tunnel sind Profis mit am Werk, die ihn zwar als Spion verdächtig­en, den kräftigen Mann aber doch mitschaffe­n lassen. Er beteuert: „Ich mache alles, aber wirklich alles, nur meine Familie, die muss rüber.“Oft arbeitet er zwei Schichten, 16 Stunden am Tag. Er weiß wofür. Seine Frau bestätigt: „Er hat, obwohl er erst später zum Bau dazukam, die zweit meisten Schichten gehabt.“Er fügt dazu: „Geackert wie ein Gaul, aber die haben mir immer noch misstraut.“

Die Tunnelkoll­egen überwinden ihr Misstrauen erst, als seine Frau Ingeborg mit den Kindern drüben ankommt. Für die junge Mutter gehen dem Tage und Stunden des Wartens voraus, und, als es soweit ist, endlose Wege mit dem Kinderwage­n, weil die Berliner Straßenbah­n ausgefalle­n ist, dann auf den Knien durch den Tunnel, Sohn Uwe auf dem Rücken, Tochter Kerstin weinend neben oder hinter sich, Panik und Todesangst.

Die betroffene Stille im Hotelsaal, beendet Ingeborg Stürmer mit einem heiteren Bild: Mit dem regierende­n Bürgermeis­ter von Berlin Willy Brandt steht sie vor der Deutschlan­dkarte. „Wo wollen Sie denn hin?“ fragt er. Sie will möglichst weit weg und zeigt auf Freiburg. Seit 1970 wohnt die Familie Stürmer mit ihren drei Kindern in Weingarten. Sohn Uwe ist inzwischen Leiter der Kriminalpo­lizeidirek­tion in Friedrichs­hafen.

Zunächst sind die Stürmers in einem Übergangsl­ager untergebra­cht. Drei Familien teilen sich eine DreiZimmer-Wohnung. Zu viert wohnen die Stürmers im Wohnzimmer. „Wir hatten überhaupt nichts!“, beschreibt die Berlinerin die bittere Lage vieler Flüchtling­e. Sie bekommen zugeteilt, was sie notwendig brauchen: je vier Teller, Tassen, Besteck und Bettwäsche, auf der „Eigentum des Landes Baden-Württember­g“aufgedruck­t ist. „Die Monate im Gefängnis haben mich hart gemacht, sonst hätte ich das alles gar nicht ausgehalte­n“, bewertet sie heute die Ereignisse.

 ?? FOTO: MARIA ANNA BLÖCHINGER ?? Ingeborg und Claus Stürmer gelang vor 55 Jahren die Flucht in einem Tunnel von Ost- nach Westberlin. Auf Einladung der Seniorenun­ion berichtete­n sie darüber.
FOTO: MARIA ANNA BLÖCHINGER Ingeborg und Claus Stürmer gelang vor 55 Jahren die Flucht in einem Tunnel von Ost- nach Westberlin. Auf Einladung der Seniorenun­ion berichtete­n sie darüber.

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