Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Als Hitler schon regierte: Machtvolle Demo der Gegner

Vor 84 Jahren strömten 10 000 Zentrums-Anhänger auf die Kuppelnau, um Reichskanz­ler a. D. Heinrich Brüning zu hören

- Von Günter Peitz

RAVENSBURG - Der 19. Februar 1933 war ein Sonntag. An diesem denkwürdig­en Ravensburg­er Sonntag im Jahr der Machtergre­ifung Adolf Hitlers, der bereits seit 30. Januar in Berlin als Reichskanz­ler regierte, strömten in Sonderzüge­n und Bussen Tausende Menschen nach Ravensburg. Es handelte sich aber nicht etwa um Anhänger der Nazis, sondern ganz im Gegenteil um deren entschiede­ne Gegner, die der Einladung der katholisch­en, in Oberschwab­en besonders stark vertretene­n Deutschen Zentrumspa­rtei zur „letzten und zugleich machtvolls­ten Demonstrat­ion gegen die NS-Diktatur“(so AltStadtar­chivar Peter Eitel in seinem Buch „Ravensburg im 19. und 20. Jahrhunder­t“) folgten.

Über 10 000 füllten schließlic­h ein eigens dafür auf der Kuppelnau aufgeschla­genes Riesenzelt, den Platz davor und die nahe alte Turnhalle, wohin die Reden übertragen wurden. Hätte Heinrich Brüning, der gebürtige Westfale aus Münster und gläubige Katholik (1885 bis 1970), deutscher Reichskanz­ler von 1930 bis 1932, Adolf Hitler und den Weg in die Katastroph­e verhindern können? Deutschlan­d, der Welt wäre jedenfalls viel erspart geblieben, wäre der gelernte Nationalök­onom Brüning nicht letztlich tragisch gescheiter­t. Die Historiker sind sich ziemlich einig, dass auch bei kritischer Betrachtun­g Brüning die letzte bedeutende Erscheinun­g unter den demokratis­chen Staatsmänn­ern der Weimarer Republik war. „Er bleibt eindrucksv­oll durch seine großen geistigen Gaben, die Reinheit seiner Gesinnung und die Selbstlosi­gkeit seiner Vaterlands­liebe“, konstatier­t Erich Eyck in seiner „Geschichte der Weimarer Republik“. Brüning leitete eine bürgerlich­e Minderheit­sregierung, die über keine Mehrheit für ihre Sparpoliti­k im Reichstag verfügte, daher seit Juli 1930 nur noch mit Notverordn­ungen des greisen Reichspräs­identen Paul von Hindenburg nach Artikel 48 der Reichsverf­assung regieren konnte und weil sie von der SPD toleriert wurde. Doch am 30. Mai 1932 ließ Hindenburg, dem der Zentrumsma­nn nicht Gespannt warteten sie auf den Hauptredne­r, den führenden Zentrumspo­litiker und Hitler-Gegner Reichskanz­ler a. D. Heinrich Brüning. Als der asketisch wirkende Intellektu­elle , ein Junggesell­e im Alter von 44 Jahren, das Festzelt betrat, brandete ihm Jubel entgegen, berichtete tags darauf der dem Zentrum nahestehen­de „Oberschwäb­ische Anzeiger“(Vorgängerb­latt der „Schwäbisch­en Zeitung“), der von den Nazis noch nicht mundtot gemacht beziehungs­weise mit der von Reichsprop­agandamini­ster Josef Göbbels gesteuerte­n NSPresse gleichgesc­haltet war. Auf der Titelseite und zwei weiteren Seiten druckte der Anzeiger die wiederholt von starkem Beifall begleitete Rede des Reichskanz­elers a. D. im Wortlaut ab und befand: „Eine gewaltige, überwältig­ende Heerschau (der katholisch-demokratis­chen Kräfte), wie sie Oberschwab­en und das Allgäu noch nie gesehen, fand sich gestern im Zeichen Heinrich Brünings in Ravensburg zusammen.“ rechts genug war, Brüning fallen. Dessen Sturz, so resümierte der Historiker Heinrich August Winkler, markierte das Ende der gemäßigten des Präsidials­ystems, das man die „Reservever­fassung“der Weimarer Republik genannt hat. Mit der Ernennung des unfähigen, arroganten Herrenreit­ers Franz von Papen als Nachfolger von Brüning und mit Papens „Kabinett der Barone“habe die zweite, autoritäre, offen antiparlam­entarische Form der Präsidialr­egierung begonnen. Von Papen, der übrigens nach Krieg und Zusammenbr­uch im Schloss Benzenhofe­n bei Berg seine Memoiren unter dem Titel „Der Wahrheit eine Gasse“zu Papier brachte, freilich eine Wahrheit, welche die Historiker zerpflückt­en, sollte schließlic­h zum Steigbügel­halter Adolf Hitlers werden. Nur einen Trümmerhau­fen hätten seine Vorgänger im Amt des Reichskanz­lers hinterlass­en, hämmerten Hitler und seine Parteiredn­er den Deutschen unentwegt ein. Es war gelogen. Brüning, der großes internatio­nales Ansehen genoss, hatte

Vorbereite­t worden war die in Anbetracht des zunehmende­n, von den Nazis ausgeübten Terrors mutige Großkundge­bung vom damaligen Rechtsanwa­lt und württember­gischen Zentrums-Landtagsab­geordneten Albert Sauer (1902 – 1981), der nach dem Zusammenbr­uch des Nazireiche­s und dem demokratis­chen Neuanfang von 1947 bis 1952 als Kultusmini­ster von Württember­g-Hohenzolle­rn und von 1946 bis 1966 als Oberbürger­meister von Ravensburg amtieren sollte, von Rechnungsr­at Gindele sowie den beiden führenden Köpfen des Anzeigers, Verlagsdir­ektor Paul Weh und Redakteur Max Kah (Vater von Prälat Bernhard Kah), beide ZentrumsMi­tglieder und nicht bereit, auf die Propaganda der Nazis einzuschwe­nken, beide von diesen schließlic­h aus ihren Positionen gedrängt.

Zu Ausschreit­ungen und Tätlichkei­ten im Zusammenha­ng mit der Großkundge­bung in Ravensburg ist unermüdlic­h dafür gekämpft, dass dem Deutschen Reich die im Versailer Vertrag festgeschr­iebenen horrenden Reparation­en endlich erlassen werden. Dieses Ziel hatte er fast erreicht, als er zurücktret­en musste. Nachfolger von Papen und auch Hitler ernteten hier Lorbeeren, die ihnen nicht zustanden. Brüning kämpfte auch für internatio­nale Abrüstung. Er war dagegen, dass das Zentrum dem Ermächtigu­ngsgesetz zustimmte, was die Partei aber tat. Und was seine rigorose, äußerst unpopuläre Finanz- und Sparpoliti­k betraf, mit der er die Reichsfina­nzen erfolgreic­h sanierte und das Reich aus der Weltwirtsc­haftskrise herauszufü­hren hoffte, allerdings für den hohen Preis weiter wachsender Massenarbe­itslosigke­it und politische­r Radikalisi­erung, so war er überzeugt, dass es nur noch einer kurzen Durststrec­ke bedürfe, bis es mit Deutschlan­d wirtschaft­lich wieder bergauf gehen würde. Sein diesbezügl­icher Durchhalte-Appell im Reichstag fruchtete jedoch nichts. Er wurde zum Rücktritt gezwungen und dazu, die Zentrumspa­rtei, deren Vorsitz er 1933 noch übernommen hatte, aufzulösen. Am Schluss blieb ihm nur die Resignatio­n und Emigration. (gp) es damals offenbar nicht gekommen, wohl aber berichtete der Anzeiger von einer „Bluttat“nach einer ähnlichen Brüning-Versammlun­g in Kaiserslau­tern, wo es bei Handgreifl­ichkeiten zwischen SA-Männern und dem Saalschutz etliche Verletzte gab. Aber auch in Ravensburg musste man in dieser schweren Zeit, in der die Nazis und ihre Schlägertr­upps immer mehr die Oberhand gewannen, mit Randale, Krawall und Schlimmere­m rechnen. Aber, so ist bei Peter Eitel nachzulese­n, als schon einen Tag nach Hitlers Machtübern­ahme hier etwa 40 Leute, hauptsächl­ich Kommuniste­n, gegen das neue Regime demonstrie­rten und eine beachtlich­e Zuschauerm­enge diese Demo verfolgte, ging das noch friedlich ab.

Zwei Wochen später aber kam es zu schweren Tumulten bei einem Fackelzug, der gemeinsam von der NSDAP und dem „Stahlhelm“organisier­t worden war. Als am Frauentor und in der Marktstraß­e den etwa 200 Teilnehmer­n Pfuirufe und Freiheitsp­arolen entgegensc­hallten, schlugen mehrere Demonstran­ten mit ihren Fackeln auf die Zuschauer ein. Sie wurden von der begleitend­en Polizei nicht daran gehindert. Daraufhin versammelt­en sich zwischen Rathaus und Waaghaus etwa 300 empörte Zuschauer, um gegen diese Form der Auseinande­rsetzung und die passive Haltung der Polizei zu demonstrie­ren.

SA bleibt ruhig Bei der Großkundge­bung mit Heinrich Brüning könnte die schiere Masse der Nazi-Gegner die Schläger von der SA dazu bewogen haben, sich besser nicht mit den Demokraten anzulegen. Der Reichskanz­ler a. D. rief in seiner Rede laut „Oberschwäb­ischem Anzeiger“„mit leidenscha­ftlichem Ernst“zur Stärkung der politische­n Mitte gegen die radikalen Fronten links und rechts, zur Verteidigu­ng der Rechte des Volkes, zum Kampf für verfassung­smäßige Zustände auf. Er nahm bei der Analyse der brisanten politische­n Situation zwei Wochen vor den Reichstags­wahlen – bereits den sechsten Wahlen binnen eines Jahres und keine wirklich freien mehr, denn die Kommunisti­sche Partei hatten die Nazis schon verboten und Sozialdemo­kraten und Zentrumsle­ute sahen sich ebenfalls schon zunehmend drangsalie­rt - kein Blatt vor den Mund, bescheinig­t ihm Peter Eitel.

Brüning brach eine Lanze für die Weimarer Verfassung. Er forderte schnelles Handeln zum Wohle der Landwirtsc­haft und des Mittelstan­des. Entscheide­nd aber für die Gesamtwirt­schaft sei, „dass wir Rechtssich­erheit, Ordnung und verfassung­sgemäße Zustände wiederhers­tellen“. Brüning verteidigt­e in Ravensburg wie andernorts seine Außen- und Wirtschaft­spolitik. Erstere lief darauf hinaus, die Siegermäch­te des Ersten Weltkriege­s dazu zu bringen, die den Deutschen als vermeintli­chen Hauptschul­digen auferlegte­n Reparation­szahlungen zu erlassen, letztere, durch eine rigorose Spar- und Deflations­politik die Reichsfina­nzen zu sanieren, was aber die allgemein damals grassieren­de Weltwirtsc­haftskrise in Deutschlan­d und damit die Massenarbe­itslosigke­it verschärft­e.

Der Redner prangerte Presse- und Versammlun­gsverbote an und den Missbrauch des Rundfunks für Parteiprop­aganda (der Nazis) sowie das gemeinsame Aufmarschi­eren von Schutzpoli­zei und SA in Berlin. „Brüning war nach Schluss der Versammlun­g Gegenstand begeistert­er Ovationen“, stand über ihn im „Oberschwäb­ischen Anzeiger“.

 ?? FOTOS: GÜNTER PEITZ ?? Der „Oberschwäb­ische Anzeiger“berichtete im Nachhinein über „begeistert­e Ovationen“für Heinrich Brüning in Ravensburg.
FOTOS: GÜNTER PEITZ Der „Oberschwäb­ische Anzeiger“berichtete im Nachhinein über „begeistert­e Ovationen“für Heinrich Brüning in Ravensburg.
 ??  ?? Phase
Phase

Newspapers in German

Newspapers from Germany