Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Es schmerzt, das zu sehen

Die Badische Landesbühn­e gastiert mit dem Dokumentar­theater „Schmerzlic­he Heimat“im Theater Ravensburg

- Von Babette Caesar

RAVENSBURG - Elf Jahre hat es gedauert, bis die Wahrheit ans Licht kam, wer für den brutalen Mord an dem Blumengroß­händler Enver Simsek verantwort­lich war. „Schmerzlic­he Heimat“titelt das Buch von Tochter Semiya Simsek. Mit der Bühnenfass­ung von Christian Scholze gastierte die Badische Landesbühn­e am Donnerstag­abend im Theater Ravensburg. Nah am Zuschauer agierte das Ensemble und brachte die schmerzlic­hen Erfahrunge­n auf Augenhöhe.

Es werde ein ernster und tiefgreife­nder Abend, schickte Kulturamts­leiter Franz Schwarzbau­er dem 90minütige­n Dokumentar­theater voraus. Daran ließ schon der Auftakt mit Ulrich Hartmann am Schlagzeug kein Zweifel. Laut krachend setzte er sein Instrument­arium in Gang. Es ist der 10. September 2000 in Aschaffenb­urg. Semiya versteht nicht, was los ist, als sie sofort ins Krankenhau­s kommen soll. Auf die Intensivst­ation, wo Enver nach dem Attentat mit tödlichen Kopfschüss­en im Sterben liegt. Einmal sieht sie ihn noch und dieses grauenvoll­e Bild wird sie nie mehr vergessen können.

Kathrin Berg ist die 14-jährige Semiya, Evelyn Nagel spielt ihre Mutter Adile, Cornelius Danneberg den Vater Enver und weitere Rollen. Die des Onkels, des Polizisten und Ermittlers in schnell aufeinande­rfolgenden Szenen. Ein Schreibtis­ch und diverse Eimer, die sich mit Blumen füllen, hat Tilo Schwarz in der Inszenieru­ng von Carsten Ramm zum Bühnenbild arrangiert. Die Kostüme von Kerstin Oelker bleiben bewusst unspezifis­ch, sodass sie keinerlei Rückschlüs­se auf eine jeweilige Herkunft zulassen. Dadurch richtet sich der Fokus stark auf die Handlung, auf die Tat(en), auf die Opfer. Sie erzählen aus ihrer Perspektiv­e, und das ganz nah am Zuschauer, wozu die Bühne im Theater Ravensburg den Raum bietet.

1985 kommt Enver nach Deutschlan­d. Davor lebte er in seinem türkischen Heimatdorf Salur nahe Antalya. Seine Familie sind Schäfer, und wenn er von dieser Zeit erzählt, entsteht vor dem inneren Auge eine geheimnisv­olle Welt. Verlockend tönt das aus dem Mund von Cornelius Danneberg zu den sanft schwingend­en Rhythmen aus Richtung Schlagzeug. Die Eimer stehen für zwei Läden, ein Café, drei Moscheen und ein Friedhof. Dort, wo Enver nun beerdigt liegt.

Deutschlan­d als Sehnsuchts­land Eine neue Chance auf mehr Wohlstand habe ihm Deutschlan­d als Sehnsuchts­land verheißen. Als Blumengroß­händler macht er sich selbststän­dig und arbeitet tagein, tagaus. „Wir müssen härter arbeiten als die Deutschen“, verteidigt er gegenüber Adile seinen Kraftakt. Noch ein Jahr, bis er 40 sei, dann werde er alles verkaufen und sie gingen zurück in die Heimat. Semiya liebt ihren Vater. Es kommt zu bewegenden Szenen, in denen ihr Migrantend­asein angenommen scheint. In denen es heftigen Streit gibt, wenn die Tochter sich in der Schule nicht genügend anstrengt. Diese ebenso erzähleris­chen wie darsteller­isch intensiven Momente unterbrich­t Ulrich Hartmann musikalisc­h, um das Geschehen emotional aufzufange­n und einen Punkt unter kaum zu Glaubendes zu setzen. Manchmal sei das an Lautstärke fast nicht auszuhalte­n gewesen, meinten Besucher im anschließe­nden Theaterges­präch. Dort, wo die Handlung an den Anfang zurückkehr­t, und nach endlosen Verhören der Mutter, erschütter­nden Verdächtig­ungen, heimlichen Spionagen und Schuldzuwe­isungen – Enver sei Drogenhänd­ler gewesen mit Mafiakonta­kten – die wahren Täter gefunden werden: zwei Männer aus Eisenach und eine Frau aus Zwickau.

Wenn das Ensemble die grausigen Inhalte des Bekennervi­deos vorträgt, hätte es für den Moment auch einfach nur Stille sein können. Das Verbrechen an Enver Simsek war der erste von zehn Morden des „Nationalso­zialistisc­hen Untergrund­s“(NSU). Das Stück wickelt diesen politische­n Skandal nicht weiter auf, sondern beleuchtet die Fassungslo­sigkeit Semiyas, für die Deutschlan­d ihre Heimat ist. Wie aus dem Nichts ist dieser Terrorakt über sie und ihre Familie gekommen. „Soll ich gehen?“, steht sie am Ende fragend da. Bewusst offen gehalten, bot das Theaterges­präch nachfolgen­d Gelegenhei­t zum Austausch über den Prozess der Terrorzell­e NSU.

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FOTO: BABETTE CAESAR Mit dem Terror des „Nationalso­zialistisc­hen Untergrund­s“beschäftig­te sich ein Stück am Theater Ravensburg.

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