Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Empörungskultur
ie 1990er waren das Jahrzehnt, als Autos keine Kanten haben durften, Verschwörungstheorien noch ebensolche waren und sich parlamentarische Untersuchungsausschüsse mit der Frage beschäftigen durften, ob Oralverkehr eine sexuelle Handlung ist und ob ein US-Präsident in der Folge sein Amt aufgeben müsste. Die 1990er waren auch das Jahrzehnt, als Verteidiger noch Vorstopper hießen, die deutsche Nationalmannschaft mit Libero spielte und ein Fußballer, der sich ungestraft einen Tigerkopf in den Haarschopf rasieren und färben durfte, nach Hause geschickt wurde, weil er während eines rumpeligen Vorrundenspiels der WM 1994 in den USA pöbelnden Fans den Mittelfinger zeigte. Wie Bill Clinton heute über außerehelichen Oralverkehr denkt, ist gottlob seine Sache, die USA haben ganz andere Probleme mit ihrem Präsidenten. Doch ein gestreckter Mittelfinger taugt auch fast 23 Jahre nach Stefan Effenbergs Sündenfall zur mittleren Staatsaffäre. Zumindest im traditionell bigotten und moralinsauren FußballDeutschland. Der DFB-Kontrollausschuss will sich mit Carlo Ancelotti und seines wahlweise als „beleidigenden“(SID) oder „obszönen“(Sport1) Geste bezeichneten Mittelfingerzeigens in Richtung Tribüne des Berliner Olympiastadions beschäftigen. Dem Bayerntrainer droht also eine Strafe, weil er den Effenberg gemacht hat. Man sollte meinen, die 1990er wären vorbei. Ancelotti verlor übrigens laut eigener Aussage die Fassung, weil er bespuckt worden sei. Da ist ein gezeigter Mittelfinger eigentlich sogar eine sehr humane Reaktion. Was hätte er sonst tun sollen? Den Spucker umarmen? Laut „Bild“und Sport1 soll übrigens auch Schiedsrichter Patrick Ittrich bespuckt worden sein, möglicherweise wie Ancelotti sogar von der Businesstribüne aus. Die üblichen Verschwörungstheoretiker würde aber sicher auch das nicht daran hindern, Ancelotti, der sonst wohl nicht einmal aus der Fassung gebracht werden kann, wenn ihm sein schon hundertfach zubereitetes berühmtes Bollito misslingt, der vorsätzlichen Lüge zu bezichtigen.
Ancelottis Trainerkollegen Dieter Hecking (Mönchengladbach) und Ralph Hasenhüttl (Leipzig) verfolgen in Bezug auf ausgestreckte Mittelfinger eher einen differenzierten Ansatz. „Ich kann Ancelotti absolut verstehen. Es ist respektlos, wenn man angespuckt wird“, sagte Hecking nach dem 1:2 gegen Leipzig. Und weiter: „Die Hemmschwelle wird deutlich geringer, das sieht man immer wieder in den Stadien. Das ist ein gesellschaftliches Problem, nicht nur eines im Fußball.“Hasenhüttl machte sich auch Gedanken darüber, wie er reagiert hätte. Ohne eine Antwort zu finden. „Ich wüsste auch nicht, wie ich in der Situation reagieren würde. Keine Ahnung. Und ich bin eher ein ruhiges Gemüt“, sagte er. Auch Dortmunds Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke sprang dem Bayerncoach zur Seite. Im ZDFSportstudio sagte er: „Ich würde jetzt nicht den Stab über ihn brechen wollen. Wenn dir einer von oben auf den Kopf rotzt, dann findest du das nicht so spannend.“
Überhaupt schien Watzke am Samstag in einen Sprüchetopf gefallen zu sein. „Der BVB ohne Südtribüne ist wie Fußball ohne Ball“, sagte er herrlich übertreibend über die Tatsache, dass der BVB wegen der vom DFB verhängten Kollektivstrafe wegen der geschmacklosen Plakate gegen RB Leipzig und deren Sportchef Ralf Rangnick in der ersten Halbzeit am Samstag auf eine leere Südtribüne spielen musste und auf die Unterstützung von rund 25 000 Fans verzichten musste. „Fußball ohne Fans ist kein Fußball“, stellte auch der jetzige Wolfsburger und frühere Dortmunder Jakub Blaszczykowski fest. Dortmund gewann locker-flockig 3:0, mit Ball und mit immer noch mehreren Zehntausend Fans im Rücken.
Mannheim scheint ein ganz gutes Pflaster zu sein, um das Kicken zu lernen. Als Hoffenheims Marco Terrazino gefragt wurde, wo man einen solch wunderbaren „No-look-Pass“lernen könne, mit dem er beim 2:0 das 1:0 durch Andrej Kramaric vorbereitete, sagte er: „Von Ronaldinho natürlich. Aber in Mannheim auf dem Bolzplatz lernt man so was auch.“