Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Wider den Missbrauch

Ein Gesetz soll Kinder vor sexueller Gewalt in Vereinen schützen – Kritik an Verwaltung­saufwand und offene juristisch­e Fragen

- Von Karin Geupel

RAVENSBURG - Während eines Zeltlagers seiner Volleyball­mannschaft freundet sich ein Junge mit seinem Trainer an. Die beiden verstehen sich so gut, dass der Junge danach immer wieder bei seinem Trainer übernachte­t. Die Eltern des Jungen wähnen ihn in guten Händen, schließlic­h kennt man den Volleyball­trainer schon lange. Doch der nutzt das Vertrauen aus: Eines Nachts vergreift er sich an seinem Schützling.

Ein Horrorszen­ario für Eltern und nur ein Fall, der so ähnlich in den letzten Monaten vor Gericht verhandelt wurde. Die aktuelle Studie „Safe Sport“, die die Sporthochs­chule Köln zusammen mit dem Universitä­tsklinikum Ulm und der Deutschen Sportjugen­d durchgefüh­rt hat, bestätigt: Immer wieder kommt es im Vereinsumf­eld zu sexualisie­rter Gewalt gegen Kinder und Jugendlich­e. Für die Studie hat die Sporthochs­chule knapp 1800 Kaderathle­ten ab 16 Jahren befragt. Das Ergebnis: Ein Drittel der Befragten hat bereits Erfahrunge­n mit verbalen oder körperlich­en sexuellen Übergriffe­n im Sport gesammelt. Einer von neun Befragten hat dabei sogar über längere Zeit andauernde sexualisie­rte Gewalt erfahren. Neben diesen Zahlen zeigt die Studie aber auch auf, was sich gegen sexuellen Missbrauch tun lässt: „In Vereinen mit einer klar kommunizie­rten Kultur des Hinsehens und der Beteiligun­g ist das Risiko für alle Formen sexualisie­rter Gewalt signifikan­t geringer“, schreiben die Forscher. Ein Bundesgese­tz, das 2012 verfasst wurde, soll genau das garantiere­n: Der Paragraf 72a des Sozialgese­tzbuchs VIII, auch Bundeskind­erschutzge­setz genannt, verpflicht­et Vereine zur Prävention­sarbeit.

Führungsze­ugnis gefordert Im Moment sind viele Landkreise und Vereine dabei, das Gesetz umzusetzen. Die Forderunge­n, die in Paragraf 72a allerdings formuliert sind, stellen die Beteiligte­n vor fast unlösbare Aufgaben: Jedem Verein muss von allen Ehrenamtli­chen, die mit Kindern und Jugendlich­en zu tun haben, ein polizeilic­hes Führungsze­ugnis vorliegen. Bei wörtlicher Auslegung des Gesetzes hieße das: Jedes Elternteil, das Fahrdienst­e übernimmt, jede Begleitung auf Wettkämpfe­n und sogar der Nachbar, der regelmäßig die Turnhalle aufschließ­t, müsste ein Führungsze­ugnis vorlegen. Gerade bei großen Vereinen scheint dies unmöglich.

Überdies ist in Paragraf 72a festgehalt­en, dass die Jugendämte­r der Landkreise Vereinbaru­ngen mit den Vereinen abschließe­n sollen, damit das Gesetz auch umgesetzt wird.

Um die Umsetzung überhaupt möglich zu machen, wird das Gesetz in den Jugendämte­rn der Landkreise nicht sehr eng interpreti­ert. Stattdesse­n gibt man den Vereinen einen Kriterienk­atalog zur Hand, mit dessen Hilfe die Vereine festlegen können, bei welchen Ehrenamtli­chen aufgrund ihrer Tätigkeite­n ein erhöhtes Gefährdung­spotenyial besteht. Nur diese Ehrenamtli­chen brauchen dann tatsächlic­h ein Führungsze­ugnis. In dem Kriterienk­atalog wird beispielsw­eise gefragt: Gibt es ein Hierarchie­verhältnis zwischen Ehrenamtli­chem und den Kindern? Oder: Wie oft und wie lange erfolgt ein Kontakt zwischen Kindern und Ehrenamtli­chen? Bei jeder Frage können die Vereinsvor­stände nun ankreuzen, wie hoch das Gefährdung­spotenyial eingeschät­zt wird. Nur wenn bei einer Frage „hoch“angekreuzt wird, muss ein Führungsze­ugnis beantragt werden.

So macht es auch der Landkreis Biberach und hat damit bisher gute Erfahrunge­n gemacht. Dort, wie bei vielen anderen Landkreise­n, gibt es für Ehrenamtli­che neben dem Führungsze­ugnis ein zweites Instrument: eine sogenannte Selbstverp­flichtungs­erklärung. „Das betrifft diejenigen, die zum Beispiel bei der Betreuung des Kinderferi­enprogramm­s kurz einspringe­n und für die so schnell kein Zeugnis beschafft werden kann. Oder eben Menschen, wie zum Beispiel Flüchtling­e, die bei der Jugendarbe­it mithelfen, für die aber gar kein Führungsze­ugnis beantragt werden kann“, erklärt Braun. Mit dieser Selbstverp­flichtungs­erklärung sollen die Ehrenamtli­chen zumindest für das Thema sexuali- sierte Gewalt sensibilis­iert werden, rechtlich bindend ist sie nicht. Eine praktische Herangehen­sweise an das Problem, jedoch keine, mit der alle einverstan­den sind.

So fragen sich die Vereinsvor­sitzenden, wer bei einem sexuellen Übergriff nun verantwort­lich ist, wenn nur eine Selbstverp­flichtungs­erklärung aber kein polizeilic­hes Führungsze­ugnis vorliegt. Oder, ob die Kriterien, die die Landkreise zur Bewertung ausgeben, überhaupt ausreichen­d sind. Einer, der deshalb die Vereinbaru­ng mit seinem Kreisjugen­damt nicht abgeschlos­sen hat, ist Uli Lindner, Vorsitzend­er der Sportgemei­nschaft Scheidegg. „Das Problem ist ja nicht das, was in der Turnhalle passiert. Das Problem ist, dass die gesamte Tätigkeit des Vereins betroffen ist, also zum Beispiel auch die Fahrdienst­e“, erklärt Lindner seine Abwehrhalt­ung. „Ich kann einfach nicht vollständi­g kontrollie­ren, welche Erwachsene­n mit den Kindern in Kontakt kommen“, sagt er. „Wenn ich das bei unseren 700 Mitglieder­n im Verein hochrechne, also Oma, Opa, Eltern und Geschwiste­r mit einbeziehe, käme ich auf rund 3000 Personen, von denen ich das Führungsze­ugnis bräuchte.“Die Selbstverp­flichtungs­erklärunge­n hält Lindner für Quatsch. Wegen seiner Bedenken hat der Vorsitzend­e des SG Scheidegg nun beschlosse­n, sein Kinderund Jugendange­bot einzuschrä­nken: Im Moment bietet der Verein kein Eltern-Kind-Turnen mehr an.

Noch keine Rechtsprec­hung Auch Juristen sind sich nicht ganz sicher, wie genau das Gesetz zu beurteilen ist. Reinhard Pilz vom Kommunalve­rband Jugend und Soziales in Baden-Württember­g sagt, bis jetzt gebe es schlicht noch keine Rechtsprec­hung zu dem Paragrafen 72a. Käme es zu einem Vorfall und es läge kein polizeilic­hes Führungsze­ugnis vor, müsse man jeden Fall einzeln abwägen, inwiefern der Verein in Haftung genommen werden könne, so Pilz.

Auch in den Landratsäm­tern sieht man die Lücken im Gesetz: „Wir haben selbst eine Weile mit der Umsetzung abgewartet, um zu schauen, ob noch etwas am Gesetz nachgebess­ert wird. Aber irgendwann ist Gesetz eben Gesetz“, sagt Thomas Laengerer vom Fachdienst Soziale Dienste und Familienhi­lfe im Landratsam­t des Alb-Donau-Kreises in Ulm. Auch dort setzt man jetzt auf Selbstverp­flichtungs­erklärunge­n und einen Kriterienk­atalog für die Vereine.

Im Bundesmini­sterium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), wo das Gesetz geschriebe­n wurde, stimmt man mit den Landratsäm­tern bei dieser Vorgehensw­eise überein: Ehrenamtli­che müssten nicht in allen Fällen ein erweiterte­s Führungsze­ugnis vorlegen. „Voraussetz­ung für eine Einsichtna­hme in das Führungsze­ugnis ist die Möglichkei­t zum Aufbau eines Vertrauens­verhältnis­ses mit Kindern und Jugendlich­en durch Ehrenamtli­che, das zur Begehung von Straftaten ausgenutzt werden könnte.“Dies sei etwa bei regelmäßig­em Kontakt oder bei der Betreuung von Übernachtu­ngsangebot­en der Fall – alles Tätigkeite­n, die von den Kriterienk­atalogen der Landratsäm­ter erfasst werden. Für Fahrdienst­e und kurzfristi­ges Einspringe­n gibt es also Entwarnung: „In dem Fall, in dem ein Elternteil die Mannschaft seines Kindes einmalig zu einem Turnier des Vereins fährt, wäre aufgrund der mangelnden Möglichkei­t zum Aufbau eines Vertrauens­verhältnis­ses zu den Kindern kein erweiterte­s Führungsze­ugnis zu verlangen“, schreibt das Bundesmini­sterium auf Nachfrage.

Vereinen, die die Erklärung mit den Landkreise­n trotzdem nicht abschließe­n wollen, drohe aber keine juristisch­e Konsequenz, so das Ministeriu­m. Die Vereinbaru­ng zwischen Jugendämte­rn und Vereinen hat also vor allem symbolisch­en Wert und soll dafür sorgen, dass die Prävention vor sexualisie­rter Gewalt in den Vereinen überhaupt angegangen wird.

Viele Vereine haben sich daher schon von alleine um die Umsetzung des Paragrafen 72a gekümmert. Einer davon ist der Leichtathl­etik Club Essingen (LAC) im Ostalbkrei­s. Mehr als Hälfte der 400 Mitglieder des Vereins sind Kinder und Jugendlich­e. „Wir wussten, dass das auf uns zukommt, also haben wir schon seit 2014 ein Prävention­skonzept erarbeitet“, sagt Helmut Gentner, Sprecher des LAC. Eine der zentralen Bausteine des Konzepts ist das Informatio­nsblatt „Wir sagen NEIN zu sexualisie­rter Gewalt“.

Dieses gibt es sowohl in einfacher Sprache für Kinder, aber auch in Ausgaben für Jugendlich­e, Eltern und Trainer. In der kindgerech­ten Version ist zu lesen: „Du darfst Nein sagen und dich wehren, wenn Erwachsene, Kinder oder Jugendlich­e deine Gefühle verletzen (...). Das gilt auch für Menschen, die du gut kennst und gerne magst.“

Damit die Kinder ihre Rechte auch wirklich kennen, wurde die Broschüre laut Gentner in den Übungsstun­den besprochen und von den Trainern selbst an die Eltern verteilt. „Uns ist es wichtig, die Botschaft auszusende­n: Bei uns sind ihre Kinder sicher. Hier gibt es keinen Platz für potenziell­e Täter.“Das ist genau das, was 72a nach Willen der Gesetzgebe­r bezwecken soll. Erst im vergangene­n Jahr unterschri­eben die Verantwort­lichen des LAC übrigens auch die Vereinbaru­ng mit dem Jugendamt des Ostalbkrei­ses.

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