Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Junger Flüchtling nimmt sich das Leben
Seit 2015 in Lindau gelebt – Freunde sammeln Geld für Überführung nach Afghanistan
LINDAU/WASSERBURG - Am vergangenen Mittwoch wäre er 18 Jahre alt geworden. Zwei Tage vorher hat sich ein junger Afghane in der Flüchtlingsunterkunft „Inter-Mezzo“in Wasserburg-Hengnau das Leben genommen. Damit seine Familie ihn beisetzen kann, sammeln ehrenamtliche Helfer und seine Freunde nun Geld für die Überführung nach Kabul. Sie selbst nehmen am Samstagmittag bei einer Trauerfeier in der Moschee Abschied.
Eine Ahnung davon, wie traumatisierend die Vergangenheit des Jungen gewesen sein muss, bekamen die Besucher eines Kunstprojekts vor zwei Wochen im Garten des Auktionshauses Zeller. Damals hatte sich der 17-Jährige, der seit 2015 in Lindau lebte und in die neunte Klasse ging, auf einem Stein verewigt. Das Bild zeigte einen Körper hinter Gittern. Er erzählte, dass er in seiner Heimat Afghanistan ohne richtigen Grund ins Gefängnis geworfen wurde. Noch kurz vor Ausstellungsbeginn wollte er seinen Stein zurückhalten, doch schließlich willigte er ein, dass sein Stein als Teil der Ausstellung gezeigt wird.
Ehrenamtliche Flüchtlingshelfer berichten, der Junge habe Depressionen gehabt, er soll in psychologischer Behandlung gewesen sein und auch Medikamente bekommen haben. Die Mitarbeiter der Unterkunft „Inter-Mezzo“äußern sich dazu nicht und verweisen auf das Landratsamt. Dessen Sprecherin Sibylle Ehreiser hält sich ebenfalls bedeckt. „Ich kann Ihnen lediglich sagen, dass – wenn eine psychologische Betreuung notwendig ist – alle Maßnahmen in Abstimmung mit den dann hinzugezogenen Fachkräften stattfinden“, schreibt Ehreiser auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“.
Ob es einen konkreten Auslöser für den Suizid gegeben hat, kann im Nachhinein keiner mehr sagen. Sowohl Helfer als auch ein Freund des Verstorbenen berichteten im Gespräch mit der LZ allerdings davon, dass der Junge wieder zurück zu seiner Familie nach Afghanistan wollte und das Landratsamt um Hilfe gebeten habe. Auf den konkreten Fall geht das Landratsamt nicht ein. „Möchte ein Flüchtling zurück in sein Heimatland, dann wird er von uns darin unterstützt – unabhängig vom jeweiligen Alter“, schreibt Landratsamtssprecherin Ehreiser.
Derzeit leben noch elf weitere minderjährige afghanische Jungen im „Inter-Mezzo“, sie alle sind bestürzt und trauern. Laut Landratsamt werden in Krisensituationen Einrichtungen und auch Schulen von Psychologen des Kriseninterventionsdiensts betreut. Ehrenamtliche Helfer erheben allerdings den Vorwurf, dass dies lediglich am Montagabend geschehen sei und die Jugendlichen seitdem keine professionelle Hilfe mehr bekommen würden. Dazu schreibt Ehreiser: „Der Kriseninterventionsdienst steht immer so lange zur Verfügung, wie er gebraucht wird.“
Landkreis zahlt Überführung nicht Die Familie des toten Flüchtlings lebt in Kabul, der Hauptstadt von Afghanistan. Sie möchten den Jungen zu Hause beisetzen. Die Überführung nach Afghanistan ist aber teuer. Laut der Lindauerin Claudia Mahmoud, die in der Flüchtlingshilfe aktiv ist, kostet sie um die 5000 Euro.
Das Landratsamt zahlt die Kosten für die Überführung nach Afghanistan nicht. Sprecherin Sibylle Ehreiser bezieht sich auf Paragraf 74 des Sozialgesetzbuchs XII. Demnach werden Überführungskosten ins Ausland nicht übernommen (Sozialhilferichtlinien 74.07 Absatz 3). „Diese Regelung gilt unabhängig von dem ausländerrechtlichen Status beziehungsweise der Nationalität“, schreibt sie. Der einzige Verwandte, den der Junge in Deutschland hatte, ist ein Onkel. „Er kam zur Identifizierung nach Lindau“, erzählt Mahmoud.
Aus diesem Grund haben nun die Freunde des toten Jungen sowie einige Helfer beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Sie haben für Samstagmittag um 12 Uhr eine Trauerfeier in der Lindauer Moschee organisiert, bei der sie Spenden für die Überführung nach Afghanistan sammeln wollen. Die Lindauer Gemeinschaft der Muslime unterstützt sie dabei. „Ein paar Frauen werden schon um zehn Uhr in der Moschee sein und kochen, es wird Essen geben und gemeinsam gebetet werden“, sagt Adnan Alici, Vorstandsmitglied des türkischen Vereins in Lindau. Er will für Samstagmittag einen Ersatz-Imam organisieren, denn die Lindauer Muslime sind dann eigentlich auf einem Ausflug in Österreich.
Die Freunde des verstorbenen Jungen sind froh, dass sie einen Ort haben, an dem sie sich versammeln und gemeinsam trauern können. „Es ist so traurig, wir können es gar nicht fassen“, sagt ein junger Afghane, der die Spendensammlung mitorganisiert. Neben vielen Lindauer Afghanen haben auch schon einige Deutsche ihren Besuch – und ihre Unterstützung – am Samstagmittag angekündigt.