Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Showdown im Boxring

Intendant Jossi Wieler bringt Händels „Ariodante“an der Staatsoper Stuttgart auf die Bühne

- Von Werner M. Grimmel

STUTTGART - Rauschende­n Beifall gab es nach der Premiere der Neuprodukt­ion von Georg Friedrich Händels Dreiakter „Ariodante“an der Staatsoper Stuttgart. Vor allem die Gesangssol­isten, der Dirigent Giuliano Carella und das in Barockbese­tzung spielende Staatsorch­ester Stuttgart wurden ausgiebig gefeiert. Erst als das Regieteam um Intendant Jossi Wieler und Chefdramat­urg Sergio Morabito auf die Bühne kam, mischten sich auch Buhrufe in den überwältig­enden Applaus.

Händels „Ariodante“wurde 1735 in London uraufgefüh­rt. Antonio Salvis Libretto basiert auf dem berühmten Versepos „Orlando furioso“(„Der rasende Roland“) des italienisc­hen Renaissanc­e-Dichters Ludovico Ariosto. Es erzählt die Sage vom Ritter Ariodante, dem der König von Schottland seine Tochter Ginevra und die Krone versproche­n hat. Doch auch der fiese Herzog Polinesso möchte Ginevras Hand und den Königsthro­n gewinnen.

Ariodantes Bruder Lurciano macht sich Hoffnungen auf Ginevras Vertraute Dalinda, die ihn aber abweist, weil sie in Polinesso vernarrt ist. Ihre fast masochisti­sche Liebe geht so weit, dass sie sich anstacheln lässt, den Herzog als Ginevra verkleidet zu besuchen. Der König verstößt seine vermeintli­ch unkeusche Tochter. Ariodante will sich töten, überlebt jedoch. Dalinda gesteht ihm ihr Mitwirken an Polinessos Intrige. Der Bösewicht wird besiegt, Ginevra und Ariodante dürfen heiraten.

Ein Abend mit Längen In Stuttgart gibt es nur eine Pause mitten im zweiten Akt. Auch so dauert der Abend freilich fast vier Stunden. Dass sich da Längen ergeben, liegt jedoch nicht an der musikalisc­hen Interpreta­tion. Carella dirigiert das aus dem Graben hochgefahr­ene Staatsorch­ester mit Gespür für stilistisc­he Feinheiten und legt Wert auf Orientieru­ng auf ein historisch­es Klangbild. Bei schnellen Nummern bevorzugt er zügige Tempi und leichtfüßi­ge Artikulati­on. Mit Drive und Eleganz kommen die Tanzmusike­n daher.

Der als Barocksäng­er renommiert­e, in Stuttgart als Gast auftretend­e Bassbarito­n Matthew Brook meistert die Partie des Königs mit Bravour. Ana Durlovski verschafft der unschuldig gedemütigt­en Ginevra berührende vokale und szenische Präsenz. Leider tönt ihr im hohen Register fabelhaft klarer Sopran in der Mittellage gelegentli­ch gaumig und unfrei. Sebastian Kohlhepp (Lurcanio) und der Counterten­or Christophe Dumeaux (Polinesso) bewältigen Händels belkantist­ische Herausford­erungen großartig.

Als sorglos-naive, schnippisc­hkecke Dalinda nimmt Josefin Feiler stimmlich und darsteller­isch für sich ein. Auch Philipp Nicklaus (Odoardo) macht in beiderlei Hinsicht eine gute Figur. Ein überragend­es Rollendebü­t in jeder Beziehung gibt die in Stuttgart „entdeckte“, mittlerwei­le europaweit gefragte Diana Haller als sportliche­r Rächer Ariodante. Ihr Mezzosopra­n betört mit phänomenal­en Farbnuance­n und lässt seine brillanten Kolorature­n wie auf Flügeln des Gesangs dahinschwe­ben.

Wieler versteht die Produktion als kreatives Experiment „mit Gesellscha­ft, Identität, Gedanken, Erfahrunge­n und Träumen“. Schauplatz des Geschehens ist eine fast leere Arena mit wattierten Barrieren ringsum. Der Boden ist mit Tüchern ausgelegt. Lange schwebt das Metallgest­änge der Theaterbel­euchtung wie ein Ufo über der Szene. Später wird es mehrfach herunterge­fahren. Der Schriftzug „Never give up!“ziert seine Seiten. In der Mitte der Decke flimmern Texthinwei­se über einen Anzeigenwü­rfel.

In langen Kapuzenmän­teln und Trainingsh­osen kommen die Darsteller herein, stellen sich vor und proben Ausschnitt­e des angekündig­ten Stücks (Bühne und Kostüme: Nina von Mechow). Dabei wird viel getanzt und herumgehop­st und überdreht mit Tüchern gewedelt. Später wird der Wettkampf um Ginevra in einem Boxring als amerikanis­che Wrestling-Show ausgetrage­n. Bei zwei ergreifend­en Arien ruckeln verschwomm­ene Videobilde­r über die Lamellenrü­ckwand. In solchen Momenten entfaltet Händels berückende Musik ihre unwiderste­hliche emotionale Wirkung. Ansonsten sorgt die karge Szene eher für Distanz.

Mit nur halb angezogene­n Theaterkos­tümen, Masken und übertriebe­nen Gesten suggeriere­n die Darsteller Probenphas­en. Der Spieler des Polinesso fotografie­rt nebenher oder doziert als Dramaturg der Produktion aus Texten Rousseaus über das Schauspiel. Der tanzenden Rokoko-Gesellscha­ft wirft er Sittenverd­erbnis vor und verordnet ihr Theaterabs­tinenz. Morabito präsentier­t den Finsterlin­g als fundamenta­listischen Ideologen einer neuen Zeit, die den Tugendterr­or der Französisc­hen Revolution im Schilde führt. Dieses komplizier­t verschacht­elte Regiekonze­pt will jedoch nicht recht in die Gänge kommen. Erst nach der Pause nimmt die Inszenieru­ng zeitweise Fahrt auf.

Weitere Vorstellun­gen: 12., 15., 21. und 25. März, 3., 11., 15., 18. und 21. April. Informatio­n und Karten: www.oper-stuttgart.de

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FOTO: CHRISTOPH KALSCHEUER Das Regieteam um Intendant Jossi Wieler wagt den Spagat: Der Wettkampf um Ginevra wird in einem Boxring ausgetrage­n, während die Kostüme vom Barock inspiriert sind.

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