Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Sozialmissbrauch: Landkreis fühlt sich alleingelassen
Lindauer Landrat weist auf Probleme bei der Identifizierung von Flüchtlingen hin
LINDAU - Behörden in Deutschland tun weiter nicht viel gegen den Sozialmissbrauch durch Menschen, die sich mit mehreren Identitäten als Flüchtlinge in Europa bewegen. Der Lindauer Landrat Elmar Stegmann fühlt sich alleingelassen, denn seine Mitarbeiter dürfen keine Fingerabdrücke abfragen. Bayerisches Innenministerium und Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) schieben den Schwarzen Peter von sich.
Stegmann und sein für die Flüchtlinge zuständiger Jurist Tobias Walch haben sich gefreut, als die „Schwäbische Zeitung“Mitte Februar darüber berichtet hat, wie einige Menschen zwischen Italien und Deutschland pendeln, um in beiden Ländern Sozialleistungen als Flüchtlinge zu kassieren. Nacht für Nacht greifen Lindauer Schleierfahnder solche Frauen und Männer in Fernbussen auf, in denen sie billig zwischen Mailand und München oder zwischen Rom und Frankfurt fahren können.
Stegmann freut sich, dass das Thema damit öffentlich zur Sprache kommt. Als Problem stellt sich heraus, dass das Registrieren im Herbst 2015 nicht so perfekt gelaufen ist, wie das wünschenswert wäre. Stegmann erinnert daran, dass der Landkreis Lindau dreimal eine Notfall-Erstaufnahmeeinrichtung gestellt hat. Busse brachten Flüchtlinge von der Grenze bei Passau nach Lindenberg und Oberreitnau, wo eine private Firma im Auftrag der Regierung von Schwaben die Menschen registriert habe. Fingerabdrücke hätten die Mitarbeiter damals nicht genommen, und oftmals haben sie wohl auch falsche Namen aufgeschrieben. Und ob tatsächlich immer das richtige Foto beim entsprechenden Datenblatt gelandet ist, daran haben Stegmann und Walch auch ihre Zweifel.
Und so war das nicht nur in Lindau. Überall waren die betroffenen Behörden offenbar komplett überrascht und überfordert. Das BAMF behauptet zwar wiederholt, so auch auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“, dass seit dem vergangenen Herbst „alle Menschen, die 2015 nach Deutschland gekommen sind und dem Bundesamt als Asylantragsteller durch die Länder zugeführt wurden, vollumfänglich erkennungsdienstlich behandelt“seien, wie Pressesprecherin Andrea Brinkmann mitteilt. Doch Walch und Stegmann berichten von Flüchtlingen aus Unterkünften im Landkreis, von denen das BAMF noch keine Fingerabdrücke erfasst habe.
Kein Zugriff auf Fingerabdrücke Walch schildert lebhaft die Folgen der schlecht funktionierenden Bürokratie bei der Erfassung der Flüchtlinge. Denn eigentlich soll es für jeden im sogenannten Ausländerzentralregister (AZR) ein Datenblatt geben, bei dem neben dem Namen und anderen Daten auch ein Foto hinterlegt ist. Doch bei vielen Flüchtlingen finden die Mitarbeiter der Ausländerbehörde gleich mehrere Datensätze. Weil das Landratsamt selbst in das Register nichts eintragen kann, informieren die Mitarbeiter die Polizisten der Schleierfahndung in Lindau mit der Bitte um Bereinigung der Daten. Oft fehle aber auch ein Foto, berichtet Walch. Und dann haben seine Mitarbeiter gar keine Möglichkeit mehr, die Identität der Gesprächspartner zu prüfen.
Fingerabdrücke sind in dem System insgesamt sogar europaweit hinterlegt, deshalb greifen die Schleierfahnder in den Bussen die Sozialbetrüger auf. Doch für das Landratsamt sind diese Daten nicht freigeschaltet. „Darauf haben wir keinen Zugriff“, sagt Stegmann. So kann die Ausländerbehörde nicht mal überprüfen, ob es auch Frauen und Männer aus dem Landkreis gibt, die woanders noch mal gemeldet sind, möglicherweise unter einem anderen Namen. Denn vereinzelte Hinweise darauf haben Walch und seine Behörde aus Kreisen der Flüchtingshelfer durchaus.
Auch wenn man das kaum glauben mag, bestätigen BAMF und das bayerische Innenministerium: „Derzeit ist zwar noch kein automatischer Zugriff auf das jeweilige Datenblatt beim Ausländerzentralregister mittels Fingerabdruck möglich“, schreibt Stefan Frey von der Pressestelle des Innenministeriums in München auf Anfrage der SZ. Doch sein Haus habe das inzwischen als Problem erkannt und arbeite an einem Konzept, um den Ausländerbehörden diesen Zugriff doch zu ermöglichen, fügt Frey hinzu. Das klingt allerdings nicht danach, als ob sich schnell was ändern würde. Frey sieht auch keine Dringlichkeit, denn laut BAMF könne jeder Mitarbeiter des Ausländeramtes ja den Ausweis des Ansprechpartners mit den Daten und vor allem dem Foto im System abgleichen: „Dort sind alle Asylbewerber auch mit Lichtbild hinterlegt“, schreibt er. Auf Nachfrage der SZ zeigt er sich verwundert, dass dies in der Praxis nicht funktioniert.
Ähnlich reagiert die Pressesprecherin des BAMF, die im Gespräch mit der SZ darauf besteht, dass die Daten einschließlich Bild inzwischen von jedem registrierten Flüchtling im AZR erfasst sind. Von den anderslautenden Erfahrungen aus dem Lindauer Ausländeramt will Brinkmann nichts wissen. Seit Inkrafttreten eines Datenaustauschverbesserungsgesetzes vor einem Jahr müsse jeder Flüchtling einen Ankunftsnachweis vorlegen, was Leistungsmissbrauch verhindere. Dass es aber offensichtlich dennoch Fälle gibt, in denen Frauen und Männer in mehreren Bundesländern oder in mehreren europäischen Ländern Leistungen für Flüchtlinge erhalten, will auch sie nicht wahrhaben. Hinsichtlich der Fingerabdrücke verweist sie auf den Freistaat, der rechtlich regeln müsste, dass die Landratsämter an die Daten kommen.
Landrat Stegmann und der für die Flüchtlinge Verantwortliche Walch sehen sich so zwischen allen Stühlen. Dabei kann Stegmann darauf verweisen, dass er solche Probleme schon sehr früh geahnt hat. Denn schon im September 2015, mitten im großen Ansturm der Flüchtlinge, hat er Bayerns Innenminister Joachim Herrmann in einer E-Mail auf die Probleme hingewiesen, die sich aus schlechter Erfassung und möglichen mehrfachen Identitäten ergeben.
Dabei geht es Stegmann damals wie heute auch um den Schutz des Staates vor Sozialmissbrauch. Noch mehr geht es ihm aber um den Schutz der Bürger zum Beispiel vor Terror. „Wir öffnen mit diesem System Tür und Tor für Menschen, die dies ausnützen möchten“, schrieb Stegmann vor anderthalb Jahren. Spätestens nach dem Fall des Berliner Attentäter Anis Amri weiß man, dass dies nicht nur eine theoretische Gefahr ist.
Deshalb versteht Lindaus Landrat auch nicht, warum nicht auch andere Landräte Alarm schlagen. Denn die Probleme seien ja überall die gleichen. Auch manche Diskussion um Videoüberwachung und elektronische Fußfesseln könnte man sich sparen, sagt der Lindauer Landrat im Gespräch mit der SZ. Und Stegmann ist sicher: Wenn die Mitarbeiter der Ausländerbehörden nicht nur im Landratsamt Lindau, sondern überall in Deutschland auf die Daten des AZR und – besser noch – auf das Allgemeine Fingerabdruck-Identifikationssystem der Polizeibehörden zurückgreifen könnten, auf dessen Grundlage die Schleierfahnder die grenzüberschreitenden Sozialbetrüger überführten, dann wäre der Berlin-Attentäter schon frühzeitig einem Beamten aufgefallen. Der hätte ganz einfach die Polizei rufen können.