Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Ein Leben zwischen Welten
Zu Besuch bei Jesidinnen in Baden-Württemberg, die vor einem Jahr aus dem Nordirak kamen
STUTTGART - Rojin ist nicht mehr das Mädchen, das sie vor einem Jahr war. Heute ist sie eine typische 16-Jährige, die gerne Musik hört und sich mit ihrem Smartphone in der digitalen Welt bewegt. „Ich verbringe viel Zeit auf Instagram“, sagt sie und lächelt verschmitzt. Auf ihrem langen, grauen Pulli bilden schwarze Pailletten den Schriftzug „New York City“, ihre schlanken Beine stecken in schwarzen Leggins, ihre Füße in modischen weißen Sneakern. Das dunkle Haar hat sich Rojin zu einem Dutt zusammengebunden, der lange Pony ist in der Mitte gescheitelt und gibt den Blick frei auf ihre bernsteinfarbenen Augen. Und die strahlen.
Vor einem Jahr war das anders. Rojin war noch nicht lange hier – in Deutschland, in der Gemeinschaftsunterkunft im Kreis Esslingen, wo sie heute noch mit der Mutter und ihren Geschwistern lebt. Sie ist Teil des Sonderkontingents, mit dem das Land Baden-Württemberg rund 1000 besonders schutzbedürftige Frauen und deren Kinder aus Flüchtlingslagern im Nordirak geholt hat. Die große Mehrheit ist jesidischen Glaubens, ein paar wenige Christen sind auch darunter.
Sie alle hatten Gräuel unter der Terrormiliz „Islamischer Staat“erlebt. Der sogenannte IS vertrieb sie aus ihren Dörfen, tötete die Männer in großer Zahl. Jungen wurden in Koranschulen gesteckt und zu Kindersoldaten abgerichtet. Ältere Frauen wurden als Haus-Sklavinnen verschleppt. Jüngere wurden zudem als Sex-Sklavinnen mißbraucht, viele von ihnen wurden mehrfach weiterverkauft.
Als im Sommer 2014 das Leid der Jesiden die Weltöffentlicheit schockierte, antwortete Baden-Württemberg auf Initiative von Ministerpräsident Winfried Kretschmann und seinem Staatsminister Klaus-Peter Murawski (beide Grüne) als erstes. 95 Millionen Euro stellte das Land für ein humanitäres Sonderkontingent zur Verfügung, um 1000 traumatisierten Frauen und Kindern zu helfen. Bis Ende Januar 2016 waren sie auf 22 Einrichtungen im ganzen Land verteilt.
Von den ursprünglich gut 100 Frauen und Kindern leben noch 58 in der Gemeinschaftsunterkunft, erklärt deren Leiterin, Sozialarbeiterin Sabine Pereira. Vier Familien haben mit den nachgereisten Familienvätern Apartments in einem Nebengebäude bezogen. Andere fanden Wohnungen in der Nähe. Die Unterstützung durch Pereira und ihre Mitarbeiter wird aber fortgesetzt.
„Die Orientierungsphase ist soweit abgeschlossen“, sagt Pereira. Doch bei Behördengängen und vor allem für Bankgeschäfte brauchen die Frauen Begleitung. Ihr vorläufiges Fazit nach eineinhalb Jahren: „Wir haben den ersten Berg geschafft. Aber jetzt beginnt der schwierigste Teil: Die Frauen selbstständiger zu machen. Sie haben noch keine Vorstellung davon, wie ihr Leben in Deutschland aussehen könnte.“Dafür haben Pereira und ihr Team nochmal so viel Zeit wie bisher, die Gemeinschaftsunterkunft ist auf drei Jahre geplant. Doch Pereira weiß auch, dass die Zeit hier begrenzt sein muss. „Eine große Gemeinschaftsunterkunft macht Integration schwieriger.“Die Frauen bleiben unter sich. Sie unternehmen begeistert Ausflüge in den nächsten Tafelladen zum Einkaufen. Doch Stadtbummel oder Kaffeetrinken kennen sie nicht. Während die Jungen mit ins Schullandheim oder im Sommer ins Zeltlager fahren, bleiben die Mädchen schüchtern zurück.
Rojin strahlt, wenn sie von der Schule redet. Noch besucht sie ein Vorbereitungsjahr, paukt Deutsch und Mathe. Rechnen hat sie im Nordirak gelernt – bevor der IS kam. Deutsch versteht sie mittlerweile fast perfekt. Beim Sprechen ist sie noch vorsichtig. So erzählt sie, langsam und vorsichtig, von ihrem Geburtstag Mitte Februar – vom kleinen Teddybären, den ihr die Mitschüler geschenkt haben. Von den Lehrern gab es Schokolade. „Ich habe mich sehr gefreut“, sagt Rojin und wirkt dabei so, als könne sie diese Zuwendungen noch immer nicht fassen.
Es fällt schwer, dieses Mädchen mit dem vor einem Jahr zu vergleichen. Die damals 15-jährige Rojin, die eigentlich anders heißt, saß in sich gesunken auf einem Stuhl, leise und mit gesenktem Blick berichtete sie in der kurdischen Sprache Kurmandschi über das, was sie in den Fängen der Terroristen erlebt hatte. 13 Jahre alt war sie, als sie zunächst vom IS monatelang von Ort zu Ort geschleppt und schließlich als Sklavin an einen muslimischen Mann verkauft wurde, übersetzte damals eine Dolmetscherin. „Da sind schlimme Sachen passiert“, sagte Rojin damals, ohne ins Detail zu gehen.
Wegen dieser „schlimmen Sachen“war Michael Blume vom baden-württembergischen Staatsministerium ein Jahr lang als Projektleiter immer wieder in Flüchtlingslagern der nordirakischen Provinz Dohuk unterwegs. Gemeinsam mit dem Traumatologen Jan Kizilhan und weiteren Mitarbeitern wählte er vor Ort die Frauen und Kinder für das Sonderkontingent aus. „Es gab damals zwei Thesen“, sagt er. „Die einen sagten, der Umzug wird den Frauen gut tun. Die anderen sprachen von Kulturschock.“Heute lautet sein Zwischenfazit: „Wir merken, dass sie gut ankommen, vor allem die Kinder. Die sprechen alle fließend deutsch. Die wollen leben.“Suizide gab es, anders als im Nordirak, auf deutschem Boden keine. Wie sich die Frauen hier einleben, sei unterschiedlich. Manche hätten Arbeit, Führerschein, Wohnung, andere haben Probleme mit ihren Traumata. „Die Richtung stimmt“, sagt Blume, „aber die Geschwindigkeit geht auseinander.“
In Pereiras Unterkunft besuchen fast alle Frauen Integrations- oder Alphabetisierungskurse. Die wenigsten hatten zuvor für längere Zeit eine Schule besucht. Auch die Kinder seien nun alle an der jeweils passenden Schule. Auch Pereira richtet ihren Blick vor allem auf die kleinen Kinder, wenn sie von Erfolgen des Projekts spricht. Neulich, erzählt sie, sei ihr auf dem Weg zur Einrichtung eine Gruppe Schulkinder entgegen gekommen „Man kann sie nicht mehr unterscheiden“, sagt Pereira lächelnd.
Alles in Butter also? Nicht ganz. Die älteren Kinder täten sich schwer in der Schule, sagt die Sozialarbeiterin. Es gibt Fehlstunden. „Sie sind zum Teil einfach mit dem Stoff überfordert.“Noch etwas schmälert den Willen zum Schulbesuch, vor allem bei den jungen Frauen. Bereits sechs junge Frauen im Alter zwischen 16 und 22 Jahren sind nach jesidischem Recht verheiratet – die Kontaktbörse war das Internet. Auch wenn die „Ehemänner“nicht in der Unterkunft wohnen und die Ehe nach deutschem Recht keine Relevanz hat, schmälert es doch die Bemühungen der Mitarbeiter in der Betreuung, die Mädchen dabei zu begleiten, selbstständige Frauen zu werden. „Sobald die Mädchen heiraten, haben sie keine eigene Meinung mehr. Dann sind sie fremdgesteuert“, sagt Pereira. Frustrierend sei das, sie und ihre Mitarbeiterinnen wollten aber weiter als Vorbilder dienen.
Rojin spielt Fußball Rojin scheint sich daran ein Beispiel zu nehmen. „Es gibt viele Angebote, aber ich gehe nicht darauf ein“, sagt sie. Warum? „Keine Lust.“Lieber möchte sie gut in der Schule sein. Lieber fährt sie mit dem Fahrrad zum Sportplatz und spielt Fußball. Denkt sie denn noch viel an früher, an die Zeit in Gefangenschaft? Und plötzlich ist da wieder die Rojin von vor einem Jahr. Das Mädchen, das mit den Händen nestelt und immer kleiner wird auf ihrem Stuhl. „Die Gedanken sind schon da“, sagt sie mit gesenktem Blick. Aber dann schiebt sie sie ganz schnell weg.
Ein wesentlicher Bestandteil des Jesidinnen-Projekts sollten Therapien sein. Mit Psychotherapie gegen ihre Traumata zu kämpfen, lehnten die Frauen in der Regel weiter ab, sagt Pereira. Was soll das bringen?, fragen die meisten. Das Leid verschwinde dadurch ja nicht, und getötete geliebte Familienmitglieder würden auch nicht mehr lebendig. Das Konzept von seelischer Krankheit kennen sie nicht. Die Zahl der Arztbesuche ist dagegen weiter hoch – das erlebte Grauen schlägt sich psychosomatisch nieder.
„Die meisten wollen nicht Therapie, sondern Alltag“, sagt Projektleiter Blume. Staatsminister Murawski ergänzt: „Es ist nicht deswegen ein minderer Erfolg, weil man Therapie nicht einsetzen musste.“Das Projekt nennt er das wohl „politisch und humanitär Wichtigste, das ich in meinem Leben getan habe“. Noch etwa 60 Prozent der aufgenommenen Frauen und Kindern leben in größeren Einheiten, die anderen bereits in Wohnungen. Und jeden Monat ziehen weitere um. 15 Frauen und Kinder sind in den Irak zurückgekehrt, vor allem aus familiären Gründen.
Viele Ältere seien noch immer gedanklich in der Heimat verhaftet, erklärt Unterkunftsleiterin Pereira. Nach wie vor würden wohl 20 Prozent ihrer Bewohner sofort zurückkehren, wenn die Lage im Nordirak sicher genug wäre. 30 Prozent seien unentschlossen. 50 Prozent wollten hingegen unbedingt in Deutschland bleiben. Viele sind bereits zu Besuch in die Heimat gereist. Sie kamen alle wieder zurück. Nun liebäugelt ein Junge, der gerade 18 geworden ist, mit einer Rückkehr auf Probe.
Auch Rojin war vor einem Jahr unentschlossen. Mittlerweile gibt es für sie keine Zweifel mehr. „Ich möchte gern hierbleiben“, sagt sie. „Alles ist schön, alles ist besser hier. Es fühlt sich normal an.“Im Gegensatz zu vielen anderen hat sie bereits klare Ziele: Sie möchte mal ein Konzert besuchen von den kurdischen, türkischen oder arabischen Musikern, die sie mag. Später will sie Arzthelferin werden. Und wenn der Frühling da ist, möchte sie ganz viel Zeit im Freien verbringen.
Das erlebte Grauen schlägt sich psychosomatisch nieder.