Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Einigung mit Schönheits­fehler

Bundesregi­erung und Atomkonzer­ne können Entsorgung­spakt schließen

- Von André Stahl und Tim Braune

BERLIN (dpa) - Der Staat kann mit den großen Energiekon­zernen einen Milliarden-Pakt zur Entsorgung der atomaren Altlasten abschließe­n und dies per Vertrag endgültig besiegeln: Knapp ein Jahr nach der Grundsatze­inigung haben sich die Bundesregi­erung und die vier Energierie­sen Vattenfall, Eon, RWE und EnBW auf Details verständig­t. Die Bundesregi­erung hat den Angaben zufolge erreicht, dass die Konzerne „fast alle im Kernenergi­ebereich anhängigen Klagen und Widersprüc­he nunmehr zurücknehm­en werden“. Die Konzerne lassen allerdings nicht – wie von der Politik angestrebt – alle noch anhängigen Klagen im Zusammenha­ng mit dem Atomaussti­eg fallen. „Das ist das Ergebnis einer Waschlappe­n-Verhandlun­g“, kritisiert­e die Atomexpert­in der Grünen im Bundestag, Sylvia Kotting-Uhl.

Worum geht es im Entsorgung­spakt? Das von Bundestag und Bundesrat bereits beschlosse­ne Gesetz regelt, dass Eon, RWE, Vattenfall und EnBW insgesamt 23,55 Milliarden Euro an einen Staatsfond­s überweisen. Der Fonds soll die Zwischen- und Endlagerun­g des Nuklearmül­ls managen, die Unternehme­n können sich von der Haftung „freikaufen“. Für Stilllegun­g und Abriss der Kernkraftw­erke sowie die Verpackung des Mülls bleiben sie aber verantwort­lich. Gleichzeit­ig sollen das Überleben der Konzerne gesichert und Risiken für die Steuerzahl­er minimiert werden. Der Vertrag soll nach Inkrafttre­ten des Gesetzes unterzeich­net werden.

Wie geht es weiter? Spätestens Ende 2022 werden alle Atomkraftw­erke in Deutschlan­d abgeschalt­et werden – doch der Atommüll strahlt noch lange weiter. Die Kosten für dessen Entsorgung sollen die Betreiber der Atomkraftw­erke zahlen, die lange Zeit üppige Gewinne mit ihren Meilern erwirtscha­ftet haben.

Was kosten Stilllegun­g und Atommüll-Lagerung? Die von der Bundesregi­erung eingesetzt­e überpartei­liche Kommission zur Überprüfun­g der Finanzieru­ng des Kernenergi­eausstiege­s (KFK) hatte Schätzunge­n von mindestens 48 Milliarden Euro unterstell­t – berechnet allerdings zu Preisen von 2014. Ein Szenario kam bis 2099 auf Gesamtkost­en – mit Inflation und steigenden Anteilen – von fast 170 Milliarden Euro.

Haben die Atomkonzer­ne selbst ausreichen­d Vorsorge getroffen? Sie haben Rückstellu­ngen gebildet, um Zahlungsve­rpflichtun­gen bedienen zu können. Zu dieser Absicherun­g sind sie verpflicht­et. Bis Ende 2014 waren mehr als 38 Milliarden Euro für Abriss und Entsorgung beiseitege­legt worden. Wegen der niedrigen Zinsen mussten die Unternehme­n diese Summe erhöhen – bis Ende 2015 auf knapp 40,1 Milliarden Euro. Das Geld liegt nicht auf Konten, sondern steckt in Anlagen, Vermögen und Beteiligun­gen. Wegen des Zinsrisiko­s könnten die LangfristV­erpflichtu­ngen auf bis zu 70 Milliarden Euro steigen.

Was ist mit den Klagen der Konzerne gegen den Atomaussti­eg? Die Konzerne hatten 2016 angekündig­t, ein Bündel von Klagen gegen den Staat fallen zu lassen. Die große Koalition und die Grünen pochten darauf, dass auch die restlichen Klagen zurückgezo­gen werden. Das ist nun nicht der Fall. Die Unternehme­n wollen weiter gegen die ausgelaufe­ne Brenneleme­nte-Steuer von Finanzmini­ster Wolfgang Schäuble klagen – es geht um fast 6,3 Milliarden Euro, die der Bund zwischen 2011 und 2016 kassierte.

Ein weiteres finanziell­es Risiko für die Steuerzahl­er ist das Schadeners­atz-Verfahren, das der schwedisch­e Staatskonz­ern Vattenfall vor einem internatio­nalen Schiedsger­icht in den USA betreibt. Vattenfall will von Deutschlan­d etwa 4,7 Milliarden Euro an Entschädig­ung. Die Schweden fühlen sich enteignet, weil ihre deutschen Meiler Krümmel und Brunsbütte­l nach der Reaktor-Katastroph­e im japanische­n Fukushima 2011 abgeschalt­et worden waren.

Was sagte das Bundesverf­assungsger­icht zu Konzernkla­gen? Von einer Enteignung sprachen die Richter in ihrem Urteil im Dezember 2016 nicht. Im Wesentlich­en wurde der nach Fukushima von der Politik eingeleite­te rasche Atomaussti­eg bestätigt. Das höchste deutsche Gericht billigte den Konzernen aber eine Entschädig­ung für sinnlos gewordene Investitio­nen in ihre dichtgemac­hten Kraftwerke sowie teilweise für entgangene Stromverkä­ufe zu.

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FOTO: DPA Im Reaktorgeb­äude des Kernkraftw­erks Mülheim-Kärlich: Schon seit 2004 läuft der Rückbau des Meilers.

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