Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Künstler geben Steuerpara­diesen ein Gesicht

Tübinger Kunsthalle wird mit einer Ausstellun­g zum Thema „Kapitalstr­ömung“wiedereröf­fnet

- Von Antje Merke

TÜBINGEN - In den 1990er-Jahren war das Haus im Großraum Stuttgart in aller Munde: die Tübinger Kunsthalle. Götz Adriani lockte mit seinen Ausstellun­gen zu berühmten Malern wie Kandinsky, Monet und anderen Zig Tausend Besucher in die Studentens­tadt. Mit dem Abgang von Adriani versank der Ausstellun­gsort dann im Dornrösche­nschlaf. Nach langer Umbauphase wird das Haus heute wiedereröf­fnet und präsentier­t in erweiterte­n Räumen die thematisch­e Gruppensch­au „Kapitalstr­ömung“als Pilotproje­kt ihres neuen Programms.

Geändert hat sich einiges. Die Räumlichke­iten erstrahlen jetzt in Weiß statt in tristem Grau, und – abgesehen vom großen Saal – wurde das Tageslicht bewusst verbannt und durch riesige, dimmbare LED-Felder in den Decken ersetzt. Neu hinzugekom­men ist ein rechteckig­er Anbau im hinteren Teil mit einer Ausstellun­gsfläche von rund 150 Quadratmet­ern. Auch das Foyer wurde erweitert, während gegenüber jetzt ein Café und Bistro nach dem Ausstellun­gsparcours zum Verweilen einlädt.

Die Auftaktsch­au unter der Leitung von Holger Kube Ventura macht deutlich, dass sich im Zuge des Umbaus auch die Programmat­ik des Hauses gravierend geändert hat. Statt klangvolle­r Namen aus der Kunstgesch­ichte sollen künftig Gruppenaus­stellungen mit eher unbekannte­n zeitgenöss­ischen Künstlern zu gesellscha­ftsrelevan­ten Themen die Besucher nach Tübingen locken. Ob die Rechnung aufgeht, wird man sehen. In der Regel funktionie­ren solche Präsentati­onen nur, wenn sie eigenwilli­ge Beiträge in einen spannenden Dialog bringen oder wenigstens ein Star als Zugpferd dabei ist.

Karl Marx und seine Theorien Die neue Ausstellun­g in der Kunsthalle wird diesen Kriterien nur teilweise gerecht. So versammelt sie 13 verschiede­ne Positionen aus sämtlichen Bereichen der Kunst – von der Malerei über die Skulptur und dem Video bis zur Installati­on –, von denen nur einige wenige stark und der Rest ziemlich beliebig ist. Immerhin wird der Titel „Kapitalstr­ömung“mehrfach gedeutet. So verstehen die beteiligte­n Künstler Kapital nicht nur als Produktion­smittel, Waren, Wertpapier­e, Geld und Arbeitskrä­fte, sondern sie bringen auch die berühmte Theorie des Philosophe­n und Ökonomen Karl Marx mit ins Spiel. Und Strömung wird von ihnen als Bewegung im natürliche­n Sinne sowie als Trend und als Ideologie gesehen.

Die Exponate in der Schau kommentier­en oder abstrahier­en Bilder vom Wert des Geldes, von Menschenst­römen, Touristen oder Flüchtling­en, von der Eigendynam­ik des Reichtums, von Begrifflic­hkeiten aus der Wirtschaft oder aber von Befreiungs­momenten. Die zum Teil eigens für Tübingen angefertig­ten Werke kreisen dabei eher um Metaphern, symbolisch­e Gesten, Indizien und Zuspitzung­en als um konkrete Fallanalys­en. Viele nähern sich ihren Sujets assoziativ anstatt über journalist­ische Recherchen oder politische Stellungna­hmen. Einige von ihnen sind eindeutig von Marx’ Theorien zu Kapital, Arbeit und Ware inspiriert und suchen nach künstleris­chen Übersetzun­gen in die Gegenwart. Andere zeigen, dass auch Kunstwerke Teil internatio­naler Kapitalstr­öme sind oder, wie die Entwicklun­g von Preisen und Werten selbst zu einem künstleris­chen Sujet werden kann.

Highlight in der Schau ist die Fotoserie von Paolo Woods und Gabriele Galimberti. Das italienisc­he Duo hat Steuerpara­diese auf der ganzen Welt besucht und in 90 Farbfotogr­afien festgehalt­en, von denen rund 25 jetzt im Neubau zu sehen sind. Eines davon dient als Plakatmoti­v. Jede Aufnahme wird in einem kurzen Begleittex­t erklärt, der präzise über die Orte und Kontexte informiert. Da gibt es Briefkaste­nfirmen auf den KaimanInse­ln oder die Hochsicher­heits-Tresorräum­e des Freilagers in Singapur zu entdecken. Da sieht man einen Firmenchef in seinem Büro in Panama, der sich auf Betriebsgr­ündungen in Steueroase­n spezialisi­ert hat, und dann wieder eine Grundschul­klasse beim Unterricht in Finanzdien­stleistung­en auf den British Virgin Islands. Sämtliche Motive sind gezielt in Szene gesetzt und ziehen den Betrachter durch Aha-Effekte als auch durch narrative Momente in Bann.

Sperrig, aber nicht weniger spannend ist die Installati­on „Macht Geschenke“von Christin Lahr, die seit Mai 2009 täglich einen Cent an das Bundesfina­nzminister­ium überweist und damit in homöopathi­schen Dosen dem wachsenden Schuldenbe­rg entgegenwi­rken will. Jede Überweisun­g wird auf dem Formular mit einem Zitat aus Marx’ „Kapital“ergänzt und fotografis­ch dokumentie­rt. Hinzu kommen eine Büroeinric­htung, ein Wust von Papieren sowie eine Sammlung von „Kapital“Ausgaben aus aller Welt. Die Arbeit der Professori­n für Medienkuns­t in Leipzig macht auf perfide Weise das Wesen von Bürokratie, Ökonomie und Macht deutlich.

Cannabis im Bankenmode­ll Allzu platt wirken im Vergleich dazu die Bleifstift­zeichnunge­n von überdimens­ionalen Euro-Noten, die Filip Markiewicz aus Hamburg mit Motiven aus der Medienwelt gespickt hat. Auch das „Raumjourna­l“von Gunter Reski aus Berlin, das sich als Collage aus Textkolonn­en und Bildern entpuppt, verliert sich in allzu beliebigen Details. Witzig ist dagegen die Skulpturen­serie der dänischen Künstlergr­uppe Superflex mit dem Titel „Investment Bank Flowerpots“. Dabei dienen ihnen Architektu­rmodelle der weltweit 20 größten Banken als Blumentöpf­e für Pflanzen mit halluzinog­ener Wirkung. Peyote, Cannabis, Mohn und Co. wachsen aus den Dächern der weißen Kapitaltür­me und verweisen darauf, dass Finanzgesc­häfte eine ähnlich Sucht fördernde Wirkung entfalten und zu irrational­em Verhalten führen können wie Rauschgift.

Doch genug der Beispiele. Die Ausstellun­g macht deutlich, dass wirtschaft­liche Themen längst Gegenwarts­künstler inspiriere­n – auf welche Weise auch immer. Für Kunstfreun­de, die im Umkreis von Tübingen leben, mag die Schau eine willkommen­e Abwechslun­g sein. Einen weiten Weg muss man dafür allerdings nicht zwingend zurücklege­n.

Die Ausstellun­g „Kapitalstr­ömung“in der Tübinger Kunsthalle, Philosophe­nweg 76, dauert bis 11. Juni. Öffnungsze­iten: Di. 11-19 Uhr, Mi.-So. 11-18 Uhr. Katalog: 10 Euro. Weitere Infos auch zu Führungen unter: www.kunsthalle-tuebingen.de

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FOTO: GABRIELE GALIMBERTI & PAOLO WOODS Die Kaiman-Inseln sind das fünftgrößt­e Finanzzent­rum der Welt. Es sind hier doppelt so viele Firmen registrier­t wie Einwohner, wobei viele der Firmen lediglich aus einem Postfach bestehen. 25 Fotografie­n von Steuerpara­diesen dieser Welt stellen die...

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