Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

„Jeder Deutsche ist hoffnungsl­os romantisch“

New-Model-Army-Sänger Justin O’Sullivan über politische Songs und deutsche Fans

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Verzerrte Gitarren, verspielte Folksongs zwischen Punk und Gitarrenpo­p, dafür steht New Model Army. Ihre Sozialkrit­ik in Songs wie „51st State“, „Vagabounds“oder „White Coats“hat die 1980 im nordenglis­chen Bradford gegründete Formation bekannt gemacht, doch als politische Band verstehen sich die Musiker ganz und gar nicht. Benjamin Wagener hat mit Justin O’Sullivan, dem Sänger und kreativen Kopf der Gruppe, gesprochen – und sich mit dem 60-Jährigen über Brexit, den Einfluss von Rockbands und die hoffnungsl­ose Romantik der Deutschen unterhalte­n.

Sie haben Ihre Band 1980 nach der Revolution­sarmee des umstritten­en britischen Freiheitsh­elden Oliver Cromwell benannt. Warum? Um ehrlich zu sein, wir hatten keinen großen Plan. Wir wollten damals zwei Gigs in einem Pub spielen und brauchten einen Namen. Natürlich war die Zeit, in der wir die Band gründeten, hochpoliti­sch – vor allem in Nordenglan­d.

Die frühen 1980er-Jahre waren die Zeit von Premiermin­isterin Margaret Thatcher. Ihre Wirtschaft­spolitik veränderte England grundlegen­d, sie privatisie­rte Staatsunte­rnehmen und brach die Macht der Gewerkscha­ften. Tausende von Stahlarbei­tern und Bergleuten verloren ihre Jobs. War die Wut über die Not der Menschen die Triebfeder von New Model Army? Nein. Viele Leute denken das, und es gab auch einige Bands, die sich deswegen gründeten. Bei uns war das anders. Wir interessie­ren uns für die Welt, aber wir sind keine politische Band. Uns ging es in erster Linie immer um die Freude, Musik zu machen – um nichts anderes.

In Ihren Songs äußern Sie sich aber sehr wohl zu den Problemen der Welt. Ist New Model Army in diesem Sinne nicht doch politisch? Wir haben kein politische­s Programm. Wir kämpfen nicht für eine bestimmte Sache. In unseren Texten nehmen wir auch die Position von Leuten ein, deren Meinung wir nicht teilen. In „My People“spricht ein überzeugte­r Nationalis­t, in „One of The Choosen“ein religiöser Fundamenta­list. Das Ziel ist, Menschen dazu zu bringen, über Dinge nachzudenk­en und sie zu verstehen – und der beste Weg, das zu tun, ist das Erzählen von Geschichte­n. Das tun unsere Songs.

Der bekanntest­e Song von New Model Army, die Coverversi­on von „51st State“, geißelt die bedingungs­lose Anbiederun­g von Großbritan­nien an die USA. Der Song entstand in den 1980ern, heute verlässt das Vereinigte Königreich die Europäisch­e Union, und Premiermin­isterin Theresa May konnte es nicht erwarten, US-Präsident Donald Trump in Washington zu besuchen. Es ist unglaublic­h, welche Wendungen der Lauf der Welt manchmal nimmt. Als wir in der Zeit nach der Finanzkris­e 2008 unser Album „Today Is A Good Day“veröffentl­ichten, habe ich gedacht, dass die Menschen mehr verstanden hätten. Die Welt war an einem Punkt, an dem man hätte erkennen können, wie das Weltfinanz­system funktionie­rt, dass es eben nicht allen nützt, sondern nur einem Teil. Doch dann entschied sich die Welt, nichts zu verändern und alles so weiterlauf­en zu lassen. Wenn man das bedenkt, ist eine Theresa May vielleicht doch nicht so überrasche­nd.

Hat Sie der Brexit überrascht?

Nein, ganz und gar nicht. Ich war sehr niedergesc­hlagen, aber ich hatte es erwartet, befürchtet. In dem Moment als Premiermin­ister James Cameron das Referendum ankündigte, war klar, dass es so laufen würde. Für Cameron war es ein politische­s Manöver, er hatte sich da schon so weit von den Leuten entfernt. Er hat die Ängste der Menschen nicht ernst genommen.

Vor allem das Thema Einwanderu­ng hat die Brexit-Debatte geprägt. Die Geschichte der Immigratio­n nach Großbritan­nien reicht weit zurück. Und auch in den vergangene­n Jahren kamen viele Einwandere­r aus Europa zu uns. Sie helfen der englischen Wirtschaft, sie arbeiten, zahlen Steuern. Aber die Politik hat diese Steuergeld­er nicht genutzt, um die Infrastruk­tur den steigenden Bevölkerun­gszahlen anzupassen. Im Gegenteil: Sie hat gespart und zusammen mit rechtsnati­onalen Medien die Immigrante­n für überfüllte Schulen und marode Krankenhäu­ser verantwort­lich gemacht. Und die Menschen haben all das geglaubt.

Aber es kommen nicht nur fleißige Immigrante­n, sondern auch Terroriste­n nach Europa. Deren Hass gilt den westlichen, offenen Gesellscha­ften. Der Glaube, dass eine kleine Gruppe von Menschen unsere westliche Zivilisati­on zerstören kann, ist paranoid. Terrorismu­s funktionie­rt, indem die Terroriste­n eine Reaktion provoziere­n – und wenn diese Reaktion über das Ziel hinaus schießt, ist das Ziel erreicht. So verunsiche­rn Terroriste­n Gesellscha­ften. Richtig reagieren wir, wenn wir nicht überreagie­ren. Terroriste­n haben der Welt nichts zu bieten. Ihr Nihilismus will nur zerstören und die Welt in die Knie zwingen.

Können Songs an diesen Problemen etwas ändern? Niemand hört einen Song und ändert deswegen seine Meinung. Aber Songs schaffen ein Gemeinscha­ftsgefühl. Auf Konzerten treffen sich Menschen, und die Musik bestärkt sie in ihrer Haltung gegen den Brexit, gegen Trump und all die rechten Idioten. Unsere Lieder sind Teil dieses Prozesses.

Im Song „Burn The Castle“Ihres im August erschienen­en Albums „Winter“plündern Menschen ein Schloss. Wessen Schloss ist es? Das Schloss von Bill Gates? Das Schloss der Googles und Apples dieser Welt? Weder noch. Das Schloss in „Burn The Castle“hat keinen König. Es geht nicht um den einen Mächtigen oder Reichen: Es geht um die Atmosphäre, dass die Welt gerade alles niederreiß­t, was sie aufgebaut hat, dass sie alles zerstört, was zum Establishm­ent gehört. Es ist die Atmosphäre, die zum Brexit geführt hat. „Here Comes The War“ist ein leidenscha­ftliches Plädoyer gegen den Hunger in der Dritten Welt. Sie haben den Song in den 1990er-Jahren geschriebe­n. Hat sich seitdem etwas geändert? Wir haben den Song nun sechs, sieben Jahre nicht mehr gespielt. Heute ist der erste Abend der neuen Tour, und „Here Comes The War“ist wieder im Programm. Es ist der richtige Song zur richtigen Zeit.

Warum stehen Sie mit Ihrer Band immer noch auf der Bühne? Weil ich es liebe. Um ehrlich zu sein, es ist auch nach 37 Jahren immer noch das Gleiche: Auf der Bühne zu stehen und mit Menschen, die ich mag, Musik zu machen, fühlt sich großartig an.

Wie unterschei­det sich das englische vom deutschen Publikum? In England sind die Fans weniger gnädig und wollen mehr tanzen. In Deutschlan­d stehen die Leute mehr herum und schauen zu – dafür ist das Gemeinscha­ftsgefühl größer.

In keinem anderen Land – außer England – hat New Model Army so viele Fans wie in Deutschlan­d. Warum ist das so? Ich glaube, dass die deutsche Natur von einem Widerspruc­h gekennzeic­hnet ist. Deutsche sind geradehera­us, präzise, sie bauen die besten Autos, die besten Maschinen, sind immer tough. Auf der anderen Seite ist jeder Deutsche, den ich getroffen habe, hoffnungsl­os romantisch. Es ist dieser Widerspruc­h aus Direktheit und Romantik, der sich durch die gesamte deutsche Kulturgesc­hichte zieht. Und dieser Widerspruc­h findet sich auch bei unserer Musik: einerseits hart und direkt, anderersei­ts hoffnungsl­os romantisch.

Live: New Model Army spielen am Mittwoch, 15. März, von 20 Uhr an im Oberschwab­enklub in Ravensburg. Support: Antiheld. Tickets kosten 29,90 Euro und sind online erhältlich unter www.schwaebisc­he.de/tickets oder telefonisc­h via 0751/29 555 777. Info: www.newmodelar­my.org

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FOTO: NIDGE SANDERS „Ich glaube, dass die deutsche Natur von einem Widerspruc­h gekennzeic­hnet ist“, sagt Sänger Justin O’Sullivan (links).

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