Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Die SPD ist wie berauscht
Martin Schulz unter großem Jubel und mit 100 Prozent der Stimmen zum neuen Vorsitzenden gewählt
BERLIN - Fast fassungslos nimmt Martin Schulz das Wahlergebnis entgegen: 100 Prozent. „Ich glaube, dieses Ergebnis ist der Auftakt zur Eroberung des Kanzleramts“, sagt der neue SPD-Chef. Selbst altgediente Sozialdemokraten erkennen ihre Partei nicht wieder. Ergebnisse über 90 Prozent, die waren allenfalls in der Union üblich. Sigmar Gabriel hat bei seiner letzten Wahl zum SPD-Chef gerade einmal 75 Prozent bekommen. Doch die Partei setzt alle ihre Hoffnungen auf Schulz. 13 000 Parteieintritte seit Januar, rund sieben Prozent mehr in den Umfragen – die Sozialdemokraten sind im Schulz-Rausch.
An diesem Sonntag sei sie gerne um 5.30 Uhr aufgestanden, um nach Berlin zu fahren, twittert schon morgens Familienministerin Manuela Schwesig. Strahlend stehen sie und die NRW- Ministerpräsidentin Hannelore Kraft neben Martin Schulz, als er in der Arena in Treptow die Bühne betritt. „Du hast uns wieder aufgerichtet“, sagt Hannelore Kraft. Überall werden rote Schilder in die Luft gehalten: „Jetzt ist Schulz“oder „Jetzt Kanzler“.
„Es fällt mir schwer zu fassen, was geschieht“, sagt Martin Schulz. Er kokettiert mit seiner Herkunft als fünftes Kind einfacher, sehr anständiger Menschen aus – ja es ist Würselen, wie inzwischen fast jeder weiß. New York, Paris, London, Würselen, steht auf den Umhängetaschen seiner Anhänger. In seiner Rede tritt der neue SPD-Chef für die gleiche Bezahlung von Männern und Frauen ein, für ein gutes Verhältnis mit den Gewerkschaften, für mehr Kunst und Kultur. Er will keine Steuersenkungen, sondern vor allem Familien fördern durch die gebührenfreie Bildung von den Kitas bis zum Studium. Vor allem aber wirbt er immer wieder für mehr Gerechtigkeit, mehr Respekt, mehr Würde. Schon bei seinem ersten Auftritt im WillyBrandt-Haus hämmerte er leise, aber eindringlich seinen Zuhörern die drei Grundgedanken ein: Respekt für die Leistung der ganz normalen, hart arbeitenden Leute, den Kampf für mehr Gerechtigkeit und den Stolz auf die mehr als 150 Jahre alte Sozialdemokratie, die schon immer Bollwerk gegen Nationalismus gewesen sei.
Schulz verspricht, auch im Wahlkampf auf den nötigen Respekt zu achten, um amerikanische Verhältnisse zu vermeiden. „Wir sind nicht die besseren Menschen, die anderen Demokraten nicht der Feind“, mahnt er zu Fairness und einem neuen Miteinander. Klare Ansagen macht er allerdings an die, die das Land ändern wollen. „Wer die Gleichheit von Männern und Frauen infrage stellt, hat in diesem Land nichts verloren.“Mit ihm gebe es kein Europa-Bashing und er werde auch nicht hinnehmen, dass türkische Mitbürger in Deutschland von Erdogan gegeneinander ausgespielt werden. Die Partei jubelt ihrem neuen Hoffnungsträger zu. „Eine wunderbare Rede“, schwärmt die Ulmer Bundestagsabgeordnete Hilde Mattheis. Seine Aussagen zu Demokratie, zu Gerechtigkeit und gegen Fremdenfeindlichkeit hätten Mut gemacht. Sie stelle in der ganzen Partei ein großes Interesse fest, den Aufbruch hinzubekommen, so die Parteilinke Mattheis.
Und selbst die Juso-Vorsitzende Johanna Uekermann, die mit Gabriel so hart ins Gericht ging, versichert Schulz: „Die Jusos stehen hinter Dir“. So ungefähr wie jetzt stelle sich die 29-jährige Uekermann die Stimmung vor, wenn die Älteren vom „Willy wählen“-Wahlkampf erzählen.
„Der Trend ist wieder ein Genosse“, hatte Sigmar Gabriel in seiner einstündigen Abschiedsrede an den Parteitag gesagt. Gabriel hat auch andere Zeiten erlebt. Jetzt wird ihm Respekt und Dank gezollt für seinen Verzicht im Dienste der SPD. Im Hintergrund sehen es allerdings viele Genossen auch kritischer. Er habe in einer für sich aussichtslosen Lage seinen Rücktritt erklärt, sich aber schnell noch das Amt des Außenministers gesichert. Als solcher mahnt Gabriel jetzt seine Partei, immer wieder darauf hinzuweisen, dass Deutschland nicht nur Nettozahler von Europa sei, sondern auch Nettogewinner.
Gabriel steht, trotz seiner langen Rede, an diesem Parteitag schon in der zweiten Reihe. Martin Schulz, so hat SPD-Generalsekretärin Barley kürzlich festgestellt, sei „unser George Clooney der SPD“. Der Mann aus Würselen selbst hat – Clooney hin oder her – versprochen: „Ich bin demütig, sehr sogar.“Leicht wird das nicht sein.