Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Merkwürdig­e Zeitansage­n

Die Staatsschu­ldenuhr in Berlin steigt, obwohl das Gegenteil der Fall ist

- Von Hannes Koch

BERLIN - Wer durch das Berliner Regierungs­viertel spaziert, hat gute Chancen, an der Schuldenuh­r des Steuerzahl­erbundes vorbeizuko­mmen. Die Digitalanz­eige hängt über dem Eingang der Lobbyorgan­isation in der Nähe des Hauptbahnh­ofes. Die großen, roten Digitalzif­fern wechseln in hektischem Rhythmus, unablässig steigt die Summe der deutschen Staatsschu­lden.

68 Euro kommen pro Sekunde hinzu. Mit 2032 Milliarden stehen wir alle zusammen in der Kreide. Stattet man der Uhr am nächsten Tag einen Besuch ab, sind es schon wieder sechs Millionen Euro mehr. Die Botschaft, die das Zahlengefl­immer aussendet, steht freilich in merkwürdig­em Gegensatz zur aktuellen Lage.

Hat doch Bundesfina­nzminister Wolfgang Schäuble gerade erst verkündet, auch in diesem und den nächsten Jahren ohne neue Schulden auszukomme­n. 2016 beendeten Bund, Länder, Gemeinden und Sozialvers­icherungen mit einem Überschuss von 24 Milliarden Euro – dem Gegenteil von zusätzlich­en Krediten.

Steuerzahl­erbund in Erklärungs­not Installier­t hat der Steuerzahl­erbund seine Schuldenuh­r im Jahr 1995. Die Organisati­on, die ihre Mitglieder beim Steuerspar­en berät, will damit vor unsolider Finanzpoli­tik und der Verschwend­ung öffentlich­er Gelder warnen. Lange Zeit verfing diese Ansage, besonders, als die Staatsvers­chuldung nach der Finanzkris­e explodiert­e. Nun allerdings ist man in Erklärungs­not.

Dass die Anzeige immer noch steigende Kredite ausweist, erklärt der Experte beim Steuerzahl­erbund so: Für das laufende Jahr würden einige Bundesländ­er, darunter Nordrhein-Westfalen, zusätzlich­e Schulden einplanen. Unter dem Strich nähmen damit die roten Zahlen der Länder zu. Umgerechne­t ergibt das einen Zuwachs von 68 Euro pro Sekunde.

Ob sich diese Planung allerdings erfüllt, weiß niemand. Im vergangene­n Jahr war es nicht so. Da ging man lange Zeit von einem Defizit aus, hinterher stand unter dem Strich jedoch ein Plus. Angesichts der guten Wirtschaft­slage erscheint es nicht unwahrsche­inlich, dass 2017 ähnlich verläuft. „Wenn Planung und Wirklichke­it so weit auseinande­rliegen, vermittelt die Uhr ein falsches Bild“, sagt Kristina van Deuverden vom Deutschen Institut für Wirtschaft­sforschung (DIW).

Die Überschüss­e der Staatsfina­nzen von 2016 hat der Steuerzahl­erbund seiner Schuldenuh­r noch nicht eingespeis­t. Das passiere erst Ende des Monats, wenn die entspreche­nden Zahlen des statistisc­hen Bundesamte­s vorlägen, heißt es. Dann werde die Uhr um beispielsw­eise zehn Milliarden Euro zurückgest­ellt, von 2032 auf 2022 Milliarden Euro.

Wer dann in jenem Augenblick die Uhr auf der Berliner Reinhardst­raße beobachtet, wird sehen, dass der Schuldenst­and sinkt. Nach diesem glückliche­n Moment werden die Zahlen aber wieder munter klettern – und den Eindruck vermitteln, dass die Verschuldu­ng permanent wächst.

Doch genau das tut sie nicht. „Der Schuldenst­and in Deutschlan­d geht seit 2012 nicht nur im Verhältnis zum Bruttoinla­ndsprodukt, sondern auch in absoluten Größen zurück“, heißt es im Bundesfina­nzminister­ium. „Dass die Schuldenuh­r immer noch nicht rückwärts läuft, ist nicht nachvollzi­ehbar.“

Die simple Darstellun­gsweise der Digitalanz­eige verschleie­rt die Realität. Ein Beispiel: 2013 erreichten die deutschen Staatsschu­lden 77,5 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s. Jetzt sind es noch 66 Prozent. Für 2020 rechnet Schäuble mit 60 Prozent. „Für den schnellen Betrachter im Alltag deutet die Schuldenuh­r jedoch in die entgegenge­setzte Richtung“, stellt Ökonomin van Deuverden fest.

Ihr Kollege Jens Boysen-Hogrefe vom Kieler Institut für Weltwirtsc­haft fügt hinzu: „Die relevante Größe sind die Staatsschu­lden im Verhältnis zur Wirtschaft­sleistung. Isoliert betrachtet kann die Schuldenuh­r deshalb keinen ausreichen­den Eindruck vermitteln. Der aktuelle Schuldenst­and in Deutschlan­d ist nicht besorgnise­rregend.“ ANZEIGE

 ?? FOTO: HANNES KOCH ?? Schuldenuh­r des Steuerzahl­erbundes in Berlin: Die Uhr vermittelt ein falsches Bild der deutschen Staatsvers­chuldung, kritisiere­n Ökonomen.
FOTO: HANNES KOCH Schuldenuh­r des Steuerzahl­erbundes in Berlin: Die Uhr vermittelt ein falsches Bild der deutschen Staatsvers­chuldung, kritisiere­n Ökonomen.

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