Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Herman de Vries zeigt sich als Archivar der Natur

Ein synergetis­ches Projekt zur Region Oberschwab­en ist ab sofort im Ravensburg­er Kunstmuseu­m zu sehen

- Von Dorothee L. Schaefer

RAVENSBURG - Das Publikum bei der Vernissage zur Ausstellun­g „Herman de Vries. From Earth: Oberschwab­en“ist groß gewesen. Doch was zeigt die Ausstellun­g im Ravensburg­er Kunstmuseu­m? 29 rechteckig­e Rahmen mit fast identische­n „Zeichnunge­n“in fünf tonigen Farben hängen an der mittleren Stellwand im Foyer, gegenüber drei Bildschirm­e mit verschiede­nen Video-Loops, insgesamt Filmmateri­al von über zwei Stunden. Ohne jegliche Erklärung und ohne Vorwissen hätte der Kunstinter­essierte es schwer, dem Minimalism­us an der Wand einen künstleris­chen Ansatz zu unterstell­en. Denn: Die Reihe dieser „Erdabreibu­ngen“auf rauem Chamois-Papier wirkt mit ihrer vertikalen Struktur eher wie Farbproben, nämlich ästhetisch-sachlich.

Deshalb waren nicht nur die Einführung von Nicole Fritz, sondern auch die persönlich­en Worte des Ausstellun­gsinitiato­rs und Sponsors Hans-Jörg Reisch wichtig, der als Kommunikat­or seiner Heimatregi­on Oberschwab­en Persönlich­keiten vom Landwirt bis zum Großgrundb­esitzer für das Projekt „Erdproben sammeln“gewonnen hatte. Auch die Erklärunge­n des Hamburger Galeristen Holger Priess zur Person Herman de Vries und zur Arbeit des Stuttgarte­r Künstlers Kristof Georgen, der die 29 Erdsammler (23 Männer und sechs Frauen) im Mai und Juni 2016 getroffen und gefilmt hatte, erhellten die Grundidee.

Künstler auf Bildschirm Leider und zu seinem großen Bedauern konnte der Künstler nicht kommen, da er vor Kurzem aus dem Krankenhau­s entlassen worden war. Aber auf einem großen Bildschirm gegenüber dem Eingang ist seine imposante Erscheinun­g mit dem naturbelas­senen weißen Patriarche­nbart bei der Arbeit zu sehen. Mit ruhigen Bewegungen siebt er pulverisie­rte Erde auf ein Papier und verreibt sie mit den Fingern. Die Erdreste werden in kleine Papierbech­ern mit genauer Ortsangabe gefüllt. Auf diese Art hat de Vries circa 8000 in aller Welt gesammelte Erden visuell erfahrbar gemacht, die im Musée Gassendi in Digne-les-Bains in der Hochproven­ce aufbewahrt werden. Aber auch Gräser, Pflanzen, Rosenknosp­en, Blätter, Steine und Werkzeuge der Feldarbeit wie eine Sammlung Sicheln stellte er schon aus. Er selbst bezeichnet dies als eine synästheti­sche „Vermittlun­g“von Wissen um die vielfältig­e Gestalt der Natur; hinter seiner geduldigen Arbeit im Grenzberei­ch „zwischen Künstler und Nichtkünst­ler“stecken 60 Jahre essenziell­e Erfahrung, dass es „keine Kunst ohne die Natur“geben kann.

Den Bezug zu Oberschwab­en knüpfen die „Filmessays“von Kristof Georgen, in denen bekannte oder weniger bekannte Menschen aus der Region einen von ihnen ausgewählt­en Ort zwischen Ulm, Beuron, Bodensee und Wangen beschreibe­n und mit dem Spaten eine Bodenprobe nehmen. Sie alle verbindet etwas mit diesem Ort und jeder hat einen anderen Aspekt: Da lobt der eine die gute Qualität der Böden für Ackerbau und Forstwirts­chaft, ein anderer lenkt den Blick auf das Bedrohtsei­n der dünnen Erdkruste, ein Landwirt sieht mit Freude auf ein noch erhaltenes Stück Natur, ein Vierter erklärt die lokale Geschichte. So wird auf der einen Seite der Horizont mal geweitet und mal verengt – und gegenüber zeigt der Künstler, mit der Demut eines Archivars, wie die Natur oder ein Teil von ihr einfach nur „ist“.

Die Ausstellun­g ist im Foyer des Kunstmuseu­ms bis zum 11. Juni zu sehen. Der Eintritt für diese Ausstellun­g ist frei. Der niederländ­ische Künstler Herman de Vries (*1931) wurde früh von seiner Ausbildung zum Gärtner geprägt; einige Jahre beschäftig­te er sich mit Pflanzenkr­ankheiten. Bereits 1953 begann de Vries zu zeichnen und zu malen; als Mitgründer der Gruppen „Nul“und „Zero“hatte er besonders auf Jan Schoonhove­n Einfluss. In den 1960er- bis 1970er-Jahren unternahm er zahlreiche Reisen durch Osteuropa, Russland, Nordafrika, Türkei, Iran und Afghanista­n, Indien und Asien; von da an wandte er sich mehr der Sprache, Schrift, Musik und Poesie zu. In den 1980er-Jahren fand de Vries in der Natur sein Lebensthem­a. Pflanzen und Erde wurden in den folgenden Jahrzehnte­n seine Hauptmotiv­e, um die seine Installati­onen wie beispielsw­eise „die Wiese“, „das verschloss­ene Paradies“oder das „sanctuary Stuttgart“, ein verschloss­enes verwildert­es Gartenstüc­k, kreisen. Einen umfassende­n Einblick in seine Lebensthem­en gab de Vries auf der Biennale von Venedig 2015, wo seine Arbeiten Hans-Jörg Reisch und Nicole Fritz zu dem Projekt „From Earth: Oberschwab­en“inspiriert­en. (dls)

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FOTO: FELIX KÄSTLE Den Bezug zu Oberschwab­en knüpfen die „Filmessays“von Kristof Georgen, in denen bekannte oder weniger bekannte Menschen aus der Region einen von ihnen ausgewählt­en Ort zwischen Ulm, Beuron, Bodensee und Wangen beschreibe­n.
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