Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Regeln außer Kraft gesetzt
Das Entsetzen darüber, dass am Dienstag in der syrischen Provinz Idlib mehr als 70 Menschen offenbar an Giftgas gestorben sind, ist groß, zumal 20 Kinder unter den Opfern sind. Doch die Reaktionen auf den Schrecken in Chan Schaichun sagen auch einiges über die Reflexe auf solche Ereignisse. Angesichts der Bilder brauchte es schnell einen Schuldigen. Und der fand sich in Syriens Präsident Baschar al-Assad. Nun ist rein gar nicht auszuschließen, dass der Mann aus Damaskus tatsächlich für den Angriff verantwortlich ist. Nur wissen wir es eben noch nicht. Es werden also zunächst Regeln außer Kraft gesetzt, wenn manche Journalisten und einige Politiker erklären, er könnte es gewesen sein, nein, er sei es sicher gewesen, wer denn sonst.
Wenn es im rechtsstaatlichen Europa mit dem Nachfragen nicht so genau genommen wird, weil wahrscheinlich sowieso Baschar al-Assad oder Wladimir Putin dahinter steckten, dann ist das falsch. Dann agiert Europa mit den Methoden, die es eigentlich ablehnt.
Zwar ist Desinformation eine russische Spezialität, aber es gilt zumindest die russische Erklärung zu überprüfen, man habe eine von Rebellen geführte Giftmischerei bombardiert.
Die europäische Öffentlichkeit ist erschöpft angesichts des syrischen Bürgerkrieges. So war die Empörung über das Sterben in Aleppo ungleich größer als sie es jetzt über das Leid der Menschen in der irakischen Stadt Mossul ist. Politik und Medien aber haben den Auftrag, genau hinzuschauen und zu analysieren. Sie wissen, dass es in Kriegen nicht nur Gut auf der einen und Böse auf der anderen Seite gibt. Und sie sollten wissen, dass die meisten der bärtigen Rebellen, die gegen Assad kämpfen, Dinge im Schilde führen, die keinem freiheitsliebenden Zeitungsleser in Europa recht sein können.
Ja, Baschar al-Assad wird sich hoffentlich irgendwann einmal vor Gericht verantworten müssen. Aber Politiker und Journalisten hierzulande kommen mit Empörung allein nicht weiter. Sie müssen einen kühlen Kopf bewahren, um dann, nach Analyse der Lage, zu handeln.