Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Wenn Partner zu Feinden werden
Bei Autoimmunerkrankungen greift das Immunsystem den eigenen Körper an
RAVENSBURG - Das Immunsystem dient in der Regel dazu, schädliche Einflüsse von außen abzuwehren. Doch es gibt Menschen, bei denen arbeitet die körpereigene Abwehr zu stark – die Folge sind sogenannte Autoimmunerkrankungen.
Für gewöhnlich können T-Lymphozyten zwischen Freund und Feind unterscheiden. Sie gehören zur körpereigenen Armee. Dringen Parasiten, Bakterien, Pilze oder Viren in den Körper ein, wissen die kleinsten der weißen Blutkörperchen, was zu tun ist. Sie erkennen Krankheitserreger und mutierte Zellen und machen sie unschädlich.
Wenn die eigene Schilddrüse zum vermeintlichen Gegenspieler wird und die Abwehrzellen sie nach und nach fressen, läuft was schief im Immunsystem. Bei einer Hashimoto thyreoiditis halten sie das Organ für einen Fremdling, der bekämpft werden muss. Auch wenn bei einer multiplen Sklerose die T-Zellen die Hüllen der Nervenzellen so lange schädigen, bis der Mensch bei einem schweren Verlauf auf den Rollstuhl angewiesen ist, ist die körpereigene Abwehr außer Kontrolle.
Beide Krankheiten gehören zu den rund 60 bekannten Autoimmunerkrankungen. Fünf bis acht Prozent der Bevölkerung leiden an einer solchen Fehlleitung des Immunsystems. Sie sind nach Herz-Kreislaufund Tumorerkrankungen die häufigsten Krankheitsbilder.
Bei einer Autoimmunerkrankung unterscheidet der Körper nicht mehr in „fremd“und „selbst“(„auto“). Er steht im ständigen Kampf mit eigenen Organen und bestimmten Zellen. Bei einer Colitis ulcerosa oder Morbus Crohn zerstören Immunzellen Bestandteile des Darms, bei einer Diabetes vom Typ 1 Zellen der Bauchspeicheldrüse, bei einer rheumatoiden Arthritis Gelenkhäute zwischen den Knochen.
Der Grund dafür liegt in hyperaktiven Abwehrkräften. „Der Mensch kommt mit einem angeborenen Immunsystem auf die Welt“, erklärt Professor Günther Wiedemann, Chefarzt für Innere Medizin am Krankenhaus St. Elisabeth in Ravensburg. „Im Laufe des Lebens entwickelt sich außerdem das erworbene Immunsystem.“Der Mensch kommt in Kontakt mit Erregern und Fremdkörpern. Das erworbene Immunsystem lernt zu beurteilen, was schädlich ist und was nicht. „Der Körper unterscheidet auch, was schnell behandelt werden muss und was toleriert werden kann“, sagt Wiedemann. Ein Beispiel dafür seien die nützlichen Keime im Darm, die – in einem gesunden Körper – nicht angegriffen werden.
Vorbeugung ist schwer Dafür sorgt die dritte und wesentliche Funktion des Immunsystems: der Schutz vor überschießender Aktivierung. „Das nennt man Toleranz. Das ist eine echte Fähigkeit“, sagt der Mediziner. „Der Körper lernt, welche Reaktion der Immunabwehr nötig ist und welche zu viel. Eine Funktion des Immunsystems ist der Schutz vor dem eigenen Immunsystem.“Bei Menschen, die an einer Autoimmunkrankheit leiden, ist diese Toleranz gegenüber bestimmten eigenen Zellen nicht vorhanden.
Vorbeugung ist bei einer Autoimmunkrankheit schwer. „Es gibt jedoch eine Studie, die besagt, dass Kinder, die auf Bauernhöfen aufwachsen, weniger häufig an Allergien leiden“, sagt Wiedemann. „Allergien sind auch eine Form der Autoimmunkrankheit.“Eigentlich ungefährliche Stoffe können bei Allergikern lebensbedrohliche Zustände auslösen. „Man kann durch Übervorsichtigkeit Kinder schädigen. Dreck ist manchmal gut. Das ist vor allem für unsere ländliche Region interessant.“
Häufig verlaufen Autoimmunkrankheiten in Schüben. Behandelt werden sie dann mit Wirkstoffen wie Cortison, Methotrexat, Cyclophosphamid oder Azathioprin. „Das sind die entscheidenden Medikamente“, erklärt Wiedemann. Diese unterdrücken das Immunsystem. „Das ist aber ein zusätzliches Problem. Dieses Immunsystem verbeißt sich bereitsam eigenen Körper, zusätzlich schwächen diese Medikamente die Funk- tionen, die das Immunsystem erfüllen sollte: Erreger abwehren.“Menschen würden anfälliger für Infekte und eine Sepsis. „Das ist nicht banal.“
Das Verständnis fehlt Einen anderen, vielversprechenden Ansatz für eine Therapie gebe es bislang nicht, sagt Hans-Jörg Fehling, Mikrobiologe und Professor für Immunologie an der Universität Ulm. „Der Hauptforschungsansatz ist, überhaupt erst einmal zu verstehen, wie es zur Autoimmunität kommt, warum der Körper einige Zellen angreift und andere nicht.“Erst dann könne man entscheiden, an welchen Stellen man eventuell eingreift. „Kein Wissenschaftler kann jedoch bislang erklären, warum die Toleranz der T-Zellen verloren geht.“
Eine Erklärung ist laut Fehling die Theorie der „Molekularen Mimikry“: Die Eiweißsequenzen einiger Erreger gleichen denen von gesunden Körperzellen. Nach einer überstandenen Infektion glaubt der Körper wegen deren ähnlicher Struktur, weiterhin befallen zu sein. Als Konsequenz greift er die gesunden Zellen an. Ein Beispiel dafür sei die Schweinegrippe. „Einige Menschen, die dagegen geimpft wurden, litten plötzlich an Narkolepsie, also einer Krankheit, bei der die Betroffenen unkontrolliert einschlafen“, erzählt Fehling. Eine Studie habe gezeigt, dass das Virusprotein bestimmten Andockstationen im Gehirn gleicht. Das Immunsystem richte sich gegen die Zellen im Gehirn, die für das Schlafverhalten wichtig sind. Auch nach Infektionen des Darms könne etwas aus dem Gleichgewicht geraten“und sich eine Autoimmunkrankheit entwickeln, so Fehling.
Dass eine Autoimmunerkrankung allein in den Genen liegt, glaubt der Forscher nicht. Das zeige auch das Beispiel eineiiger Zwillinge, bei denen einer der beiden an einer Typ-1Diabetes leidet. „Die Wahrscheinlichkeit, dass der gesunde Zwilling auch erkrankt, liegt bei 40 bis 50 Prozent. Es muss noch etwas geben außer der Genetik.“
In der morgigen Folge der Gesundheitsserie geht es um Antibiotika. Alle Teile der Serie und weitere Informationen finden Sie unter ●» www. schwaebische. de/ leibundseele.