Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Ein Paradiesvo­gel am See

Der US-Organist Cameron Carpenter ist Artist in Residence beim 29. Bodenseefe­stival

- Von Werner M. Grimmel

FRIEDRICHS­HAFEN – Mehr noch als die Stargeiger Nigel Kennedy und David Garrett gehört der amerikanis­che Organist Cameron Carpenter zu den Paradiesvö­geln der gegenwärti­gen Klassiksze­ne. Als Artist in Residence wird er nun dem diesjährig­en Bodenseefe­stival seinen künstleris­chen Stempel aufdrücken. In einem Workshop und sechs Konzerten rund um den Bodensee präsentier­t er unterschie­dliche Programme mit seiner Internatio­nal Touring Organ, einer zerlegbare­n und transporta­blen Orgel auf digitaler Klangbasis.

Unter dem Festivalmo­tto „Variations on America“finden vom 6. Mai bis zum 5. Juni an mehr als dreißig Orten der Dreiländer­region 76 Veranstalt­ungen statt. Als Kontrapunk­t zu tagesaktue­llen Nachrichte­n, die derzeit unser Bild von den USA prägen, soll die vielfältig­e, hierzuland­e oft nur peripher wahrgenomm­ene nordamerik­anische Kultur ins Blickund Hörfeld gerückt werden. Das Spektrum des interdiszi­plinären Kunstfests reicht von klassische­r Musik über Jazz, Tanz, Schauspiel und Literatur bis zum Film.

Jazz mit Grace Kelly Als Young Artist in Residence kommt die US-amerikanis­che Saxophonis­tin, Sängerin und Komponisti­n Grace Kelly erstmals an den Bodensee. Die in ihrer Heimat gefeierte Künstlerin gilt unter europäisch­en Jazz-Fans vielfach noch als Geheimtipp. Wie Carpenter wird sie nicht nur Konzerte spielen, sondern auch einen Workshop leiten.

Beim Pressegesp­räch, zu dem jetzt Katharina Ess und Winfried Neumann als Geschäftsf­ührer des Festivals eingeladen hatten, gab Carpenter umfassend Auskunft über sein Instrument und seine Intentione­n. Bewusst pflegt der reisende Organist mit auffällige­r Frisur und gelegentli­ch schrillem Outfit sein Image als exzentrisc­her Musiker. In Friedrichs­hafen präsentier­te er sich als seriöser Musiker, der sich tiefgründi­ge Gedanken über seine Mission macht. Carpenter wurde 1981 in Pennsylvan­ia geboren und erkundete schon als Vierjährig­er die Hammond-Orgel seiner Eltern. Nach erstem Unterricht bei seiner Mutter erhielt er seine Ausbildung in North Carolina und später an der renommiert­en New Yorker Julliard School.

Mit Bearbeitun­gen klassische­r und populärer Vorlagen für Orgel machte Carpenter vor mehr als zehn Jahren auf sich aufmerksam. Sein Album „Revolution­ary“wurde 2009 für einen Grammy nominiert. 2014 erhielt er den Klassik-Echo-Preis. Seine Crossover-Programme verleugnen nicht, dass er neben seiner Liebe zur Musik von Bach und anderen Meistern europäisch­er Kunstmusik auch spezifisch amerikanis­che Klangwelte­n vom Musical über Filmmusik bis hin zu Disco-Sounds favorisier­t. Zurzeit lebt er in seiner Wahlheimat Berlin.

Digitale Klangmasch­ine Seit 2014 ist Carpenter mit seiner Tournee-Orgel unterwegs, die er zusammen mit der Orgelbaufi­rma Marshall & Ogletree in Massachuse­tts entwickelt hat. Ein Jahrzehnt lang tüftelte er an der Konzeption und Konstrukti­on des einzigarti­gen Instrument­s, von dem es mittlerwei­le in Amerika noch eine exakte Kopie gibt. Carpenter wollte das doppelte Handicap für Konzertorg­anisten aushebeln, dass sie als Künstler im Kirchenrau­m und in den wenigen orgelbestü­ckten Konzerthal­len an ein individuel­les Instrument gebunden sind und obendrein für das Publikum meist unsichtbar bleiben.

In Friedrichs­hafen bekräftigt­e Carpenter seine Ansicht, dass „klassische“Musik nicht nur eine Kunst für die Ohren, sondern auch für die Augen sei. Einstige Stars wie Paganini oder Liszt hätten ihm da nicht widersproc­hen. Carpenters Touring Organ hat fünf Manuale, ein um je fünf Tasten im untersten und obersten Bereich erweiterte­s Pedal und rund 200 Register. Sie vereint die Klangmögli­chkeiten von einigen der besten großen Pfeifenorg­eln der Welt. Deren Dispositio­nen und historisch­e Stimmungen sind simulierba­r.

Hauptsächl­ich aber hat sich Carpenter bei seinem Wunderwerk am sinfonisch­en Klang amerikanis­cher Kinoorgeln aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunder­ts orientiert, die seiner Meinung nach bis dahin den Höhepunkt des weltweiten Orgelbaus repräsenti­eren. Er räumt ein, dass man das auch anders beurteilen kann, sieht aber langfristi­g keine Zu- kunft für die europäisch­e Tradition der Pfeifenorg­el. Seine digitale „Klangmasch­ine“markiere hingegen eine neue Stufe in der jahrhunder­tealten Geschichte des Orgelbaus.

Carpenter vergleicht sein Instrument mit der amerikanis­chen Gesellscha­ft, die sich ebenfalls als „melting pot“verstehe. So gesehen passt seine Ästhetik zum Motto des Festivals, das er am 6. Juni in Friedrichs­hafen mit dem Orchestre National de Lyon unter Leitung des amerikanis­chen Dirigenten Leonard Slatkin eröffnet. Sehr amerikanis­ch ist auch seine Sicht auf die Musik von Johann Sebastian Bach, die er auf seinem neuesten Album „All You need is BACH“(Sony Classical) anhand von eigenen Arrangemen­ts entfaltet.

Das gesamte Programm des Bodenseefe­stivals unter: www. bodenseefe­stival. de

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FOTO: DPA Cameron Carpenter hat sich eine transporta­ble Orgel bauen lassen, um damit auf Tournee zu gehen.

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