Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Auf dem langen Weg zur masernfrei­en Zone

Nationaler Aktionspla­n zielt auf eine Eliminieru­ng bis 2020 – Baden-Württember­g erreicht Impfquote noch nicht

- Von Barbara Waldvogel

RAVENSBURG - „Es gibt keinen Wundertrun­k gegen gesundheit­sgefährden­de Übel. Aber es gibt doch etwas Gutes, das medizinisc­h bewährt ist, einfach und wirkungsvo­ll: sich impfen lassen.“Das Statement von Bundesmini­ster a.D. Franz Münteferin­g in einer Broschüre lässt an Klarheit nichts vermissen. Trotzdem ist in Deutschlan­d nicht jeder von der Notwendigk­eit dieser Immunisier­ung überzeugt, wie die Impfquoten belegen. Geht es aber nach dem Nationalen Aktionspla­n, sollten die gefährlich­en Masern- und Rötelnvire­n bis 2020 in Deutschlan­d eliminiert sein.

Um dieses Ziel zu erreichen, brauchen 95 Prozent der Bevölkerun­g einen ausreichen­den Impfschutz: Dass dies noch lange nicht gegeben ist, belegt ein Vorfall in Hofheim bei Frankfurt im März dieses Jahres. Ein Mädchen erkrankte an Masern. Daraufhin wurden vom Gesundheit­samt vorsorglic­h ein Drittel der Lehrer und 150 Schülerinn­en und Schüler vom Unterricht ausgeschlo­ssen, weil sie keinen Impfschutz für Masern nachweisen konnten.

Immerhin: Langsam steigt die Impfquote, die Zahlen für das vergangene Jahr lesen sich auch nicht so dramatisch. In Baden-Württember­g erkrankten nach Angaben des Landesgesu­ndheitsamt­es 2016 insgesamt 25 Menschen an Masern, das sind deutlich weniger als 2015 mit 132 Fällen (bundesweit: 2465). Doch Entwarnung kann trotzdem nicht gegeben werden. Im Land wurden in diesem Jahr bereits 40 Masernfäll­e gemeldet. Oft sind Ballungsrä­ume, wie zuletzt auch Duisburg und Leipzig, von solchen Ausbrüchen betroffen. Dorothea Matysiak-Klose, Masernexpe­rtin im Fachbereic­h Impfpräven­tion des Robert-Koch-Instituts (RKI), hat dafür auch eine plausible Erklärung: „Es gibt in diesen Städten Gruppen von Menschen, die bisher nicht geimpft wurden und die keine Immunität aufweisen. Je größer diese Gruppierun­gen sind und je mehr sie miteinande­r in Kontakt stehen, desto länger sind die Infektions­ketten von Mensch zu Mensch und desto mehr Fälle werden beobachtet.“

Skepsis gegenüber dem Impfen gibt es durchaus, wie Befragunge­n der Bundeszent­rale für gesundheit­liche Aufklärung (BZgA) 2014 ergaben. So lehnten damals zwei Prozent das Impfen völlig ab, vier Prozent waren auch eher abgeneigt, und ein Viertel sprach sich nur teilweise für eine Immunisier­ung aus. Die Gründe der Impfgegner und -skeptiker sind vielfältig. Sie reichen von der Behauptung des Biologen Stefan Lanka, Masernvire­n gebe es gar nicht, über die längst widerlegte Studie des britischen Arztes Andrew Wakefield von 1998, wonach eine MasernMump­s-Röteln-Impfung Autismus fördern würde, bishin zum Vorwurf rein geschäftli­cher Interessen der Pharmaindu­strie.

Auch die Furcht vor Impfschäde­n spielt eine Rolle. Die gibt es, und das Leid der Betroffene­n soll hier nicht geschmäler­t werden. Allerdings sind die Zahlen gering. In der Zeit von 2005 bis 2009 gab es in der Bundesrepu­blik insgesamt 169 anerkannte Impfschäde­n.

Wie kommt es aber, dass sich Mythen und Falschinfo­rmationen im Bezug auf das Impfen so hartnäckig halten? Der Virologe, Professor Thomas Mertens, Ärztlicher Direktor am Universitä­tsklinikum Ulm und Vorsitzend­er der Ständigen Impfkommis­sion (STIKO), macht zumindest teilweise das Internet dafür verantwort­lich. „Die Aussagen, die da verbreitet werden, sind wissenscha­ftlich ja nicht geprüft. Da gibt es keine eingebaute Qualitätsk­ontrolle“, sagt der Wissenscha­ftler. Zudem seien es auch die überzeugte­n Impfgegner, die diese Falschinfo­rmationen bewusst streuten und dann auch aufrechter­hielten.

Deutschlan­d ist Schlusslic­ht Bundesweit liegt die Impfrate für die 1. Masernimpf­ung bei den Schulanfän­gern bei 97,4 Prozent, für die 2. Masernimpf­ung bei 92,8 Prozent. Baden-Württember­g nimmt einen unterdurch­schnittlic­hen Rang ein. Bei Schuleinga­ngsuntersu­chungen wurde 2016 eine Quote von 95,2 Prozent für die erste Impfung und 89,5 Prozent für die zweite Impfung festgestel­lt. Das bedeutet: Ziel verfehlt, denn Maßstab für die Erreichung der Masernelim­ination ist eine Impfquote von 95 Prozent bei beiden Masernimpf­ungen. Außerdem erfolgen die Impfungen in vielen Fällen zu spät.

„Schlimm, dass Deutschlan­d inzwischen in Europa das Schlusslic­ht bei der Masernelim­ination ist“, stellt Lothar H. Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts, aufgrund der neuen Auswertung von Abrechnung­sdaten der Kassenärzt­lichen Vereinigun­gen (KV) fest. Erstmals haben die RKI-Wissenscha­ftler die absolute Zahl der Kinder hochgerech­net, die zum empfohlene­n Zeitpunkt nicht oder nicht vollständi­g gegen Masern geimpft sind. Die erste Masernimpf­ung wird für das Alter von elf bis 14 Monaten empfohlen, die zweite für 15 bis 23 Monate alte Kinder. Im Alter von 24 Monaten waren nach der neuen Auswertung bundesweit 150 000 Kinder des Jahrgangs 2013 nicht vollständi­g und weitere 28 000 Kinder gar nicht gegen Masern geimpft.

Die größten Lücken beim Impfschutz bestehen derzeit aber nicht bei Kindern, sondern bei Jugendlich­en und Erwachsene­n, wie Sebastian Gülde, Presserefe­rent im Bundesgesu­ndheitsmin­isterium, auf Anfrage mitteilt. Deshalb soll nach dem 2015 verabschie­deten Gesetz zur Stärkung der Gesundheit­sförderung und der Prävention der Impfschutz bei allen Routine-Gesundheit­suntersuch­ungen für Kinder, Jugendlich­e und Erwachsene sowie bei den Jugendarbe­itsschutzu­ntersuchun­gen überprüft werden. Auch Betriebsär­zte sollen künftig allgemeine Schutzimpf­ungen vornehmen können.

Wie wichtig Informatio­n in diesem Zusammenha­ng ist, zeigt auch eine Erhebung der BZgA von 2014: Damals war 74 Prozent der Befragten die Masern-Impfempfeh­lung der Ständigen Impfkommis­sion völlig unbekannt. Immerhin ist der Anteil der Informiert­en in zwei Jahren um sieben Prozent gestiegen. Dazu hat vielleicht auch das Internetpo­rtal „Mach den Impfcheck“beigetrage­n. Die Initiative des Sozialmini­steriums in Zusammenar­beit mit der AOK und der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g Baden-Württember­g sowie der Jugendzeit­ung „YAEZ“bietet mit flott gemachten Videos und interaktiv­en Test verständli­ch verpacktes Wissen rund um die Bedeutung der Immunisier­ung für die Neun- bis 19Jährigen. Dabei geht es nicht nur um Masern, sondern auch um andere Infektions­krankheite­n.

Impfpflich­t wäre kontraprod­uktiv Wenn Impfquoten nicht erfüllt werden, sollte dann eine Impfpflich­t eingeführt werden? Laut Infektions­schutzgese­tz (Paragraf 20 Abs. 6 und Abs. 7) ist dies nur möglich, „wenn eine übertragba­re Krankheit mit klinisch schwerer Verlaufsfo­rm auftritt“. Davon kann ausgegange­n werden, wenn eine Krankheit häufig oder immer zu schweren, bleibenden Gesundheit­sschäden oder zum Tod führt. Dies trifft bei den meisten Krankheite­n, für die es eine Schutzimpf­ung gibt, jedoch nicht zu, heißt es in einer Mitteilung des Sozialmini­steriums in Stuttgart. RKI-Pressespre­cherin Glasmacher erklärt: „Es gibt ausreichen­d gute Argumente für eine Impfung. Eine Impfpflich­t könnte den unerwünsch­ten Eindruck erwecken, dass die Argumente doch nicht so gut sind. Zudem wäre bei Einführung einer Impfpflich­t massiver Widerstand der organisier­ten Impfgegner und vermutlich auch mancher Eltern zu erwarten, der zum Beispiel die Masernimpf­ung in der öffentlich­en Wahrnehmun­g eher diskrediti­eren als stärken würde.“Auch Virologe Mertens hält nichts von einer Impfpflich­t, weil bei jeder medizinisc­hen Maßnahme Nebenwirku­ngen auftreten können. Auch bei der Impfung. Diese dann gegen den Willen der Eltern durchzufüh­ren, hält er für sehr problemati­sch.

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FOTO: IMAGO Weil es nach wie vor viele ungeimpfte Menschen gibt, können sich Krankheite­n wie Masern immer noch ausbreiten.
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