Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Von der Idee zur App auf Rezept
Therapiehilfen per Smartphone werden stark nachgefragt – Doch um damit Geld zu verdienen, ist es ein langer Weg
RAVENSBURG - Es pfeift im Ohr, es zischt, rauscht. Das Geräusch ist immer da, im Job, beim Familienausflug, beim Abendessen mit Freunden. Stress schlägt sich bei vielen Menschen aufs Ohr. Den Tinnitus wieder loszuwerden ist schwierig, in manchen Fällen aussichtslos. Digitale Hilfe könnte das Leid der Betroffenen lindern. Jörg Land und seine Kollegen haben vor knapp vier Jahren die App „Tinnitracks“auf den Markt gebracht. Mit der Software können Patienten ihre Lieblingsmusik so filtern, dass sie zur Tinnitus-Therapie eingesetzt werden kann. Experten fanden die Idee von Anfang an gut. Aber bis zum Angebot auf dem Gesundheitsmarkt war es ein langer und anstrengender Weg.
Um Geschäfte mit der Gesundheit zu machen, müssen Unternehmen etliche gesetzliche Regularien einhalten. „Ein Medizinprodukt ist Fleißarbeit“, sagt Land, Geschäftsführer von Sonormed, der Firma, die hinter der Tinnitus-App steht. Es geht um Auflagen zum Schutz der Patienten, darum, ob das neue Produkt den Betroffenen tatsächlich hilft. Darum, ob es Therapien ergänzt und medizinische und technische Leistungen so erfüllt, wie vom Hersteller beschrieben. Knapp ein Jahr hat es gedauert, bis Lands Firma für die Tinnitus-App die Zertifizierung bekommen hat. Der Aufwand hat sich gelohnt. Jetzt finanzieren auch einige Krankenkassen wie die Techniker und Axa das Angebot.
Krankenkassen fördern kaum Die umständliche Zertifizierung sorgt aber dafür, dass solche Apps mit einem therapeutischen Nutzen noch selten sind. Schätzungen zufolge gibt es derzeit rund 130 000 gesundheitsbezogene Apps auf dem deutschen Markt. Gerade einmal 60 davon sind als Medizinprodukt anerkannt, neben „Tinnitracks“zum Beispiel noch die Diabetes-App „MySugr“oder die Allergie-App „Husteblume“. Die meisten Gesundheitsapps in den Stores von Apple und Google sind den Bereichen Lifestyle, Sport und Fitness zuzuordnen – wie etwa Schrittzähler, Ernährungsberater oder Trainingsplaner.
App-Entwickler und Unternehmer schreckt vor allem die Bürokratie. Sie müssen etliche Regeln einhalten, Vorschriften berücksichtigen und Studien durchführen, bis sie aus einer Gesundheitsapp ein Medizinprodukt machen und damit Geld verdienen können. Die Bundesregierung hat daher nun ein Innovationszentrum eröffnet, das Start-ups wie Sonormed unterstützen will. Angesiedelt ist das Büro beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in Bonn. Die Berater der Behörde wollen den Start-ups und Forschern helfen, die eine gute Geschäftsidee haben, aber wenig Erfahrung mit den gesetzlichen Vorgaben.
„Es geht darum, den Entwicklern schon in einer frühen Phase ihres Produkts eine Orientierungshilfe zu geben und so Fehlentscheidungen zu vermeiden“, sagt Maik Pommer, Sprecher des Instituts. Geklärt werden sollen etwa Fragen wie: Wie werden Diagnose und Therapiepläne umgesetzt? Welchen Zusatznutzen hat der Patient? Wie steht es um den Jörg Land, Chef von Sonormed
Datenschutz? Kommt eine Anerkennung als Medizinprodukt überhaupt infrage? Die Berater wollen den Entwicklern darauf Antworten geben – und zwar bevor sie viel Geld verbrannt haben. Im Zentrum steht aber immer der Schutz der Patienten.
Zertifizierung ist schwierig Marc Kamps weiß genau, wie schwer es ist, eine Medizin-App auf den Markt zu bringen. Kamps ist Gründer der IT-Firma Birds and Trees. Das Hamburger Unternehmen entwickelt Software, die Therapie und Reha-Maßnahmen digital unterstützen sollen. Seine Idee: Eine App, die an Mukoviszidose erkrankten Kindern im Alltag hilft. Physiotherapie, die Einnahme von Medikamenten, Arztbesuche: Die Therapie der genetisch bedingten Stoffwechselerkrankung ist enorm zeitaufwendig und für Kinder nicht immer verständlich. Mit der App „Patchie“wird der junge Patient kindgerecht durch die Therapie geleitet.
Kamps will die Krankenkassen davon überzeugen, sein Produkt für die Versicherten zu übernehmen. Damit dies funktioniert braucht Kamps eine Zertifizierung als Medizinprodukt für die App und eine Anerkennung über eine Studie. „Das ist eine Komplexität, die wir vorher nicht einzuschätzen vermochten“, sagt Kamps. Allein die Dokumentation der Software fordert Kamps Team heraus, das zurzeit eine klinische Studie durchführt.
Die Idee zu „Patchie“kam dem Unternehmer, als bei seinem Sohn die Krankheit diagnostiziert wurde. Selbsthilfegruppen oder auch Ärzte unterstützten schnell die App-Idee. Aber Probleme mit den Regularien und der Finanzierung machen eine schnelle Markteinführung unmöglich. Kamps wünscht sich mehr Unterstützung seitens der Politik, um Medizinprodukte zum Wohle der Patienten schneller zugänglich zu machen.
Etwa 8000 Menschen sind in Deutschland an Mukoviszidose erkrankt. „Wir müssen einen gesundheitsökonomischen Nachweis liefern, dass die App auch einen Sinn hat“, sagt Kamps. Neun Leute arbeiten derzeit an dem Produkt, hinzu kommen viele Unterstützer. Viel Enthusiasmus und zusätzliche Einsatzbereitschaft bringen seine Mitarbeiter mit, um die App weiterzuentwickeln. Wenn alles klappt, könnte Patchie Ende des Jahres von erkrankten Kindern, ihren Eltern und Ärzten genutzt werden.
Dass es im Gesundheitsmarkt „hart zur Sache geht“, bestätigt auch Jörg Land, der Macher der TinnitusApp. „Die Zertifizierung allein reicht nicht aus, um ins System reinzukommen“, sagt er. Erfolg hat der, der mit einem überzeugenden Konzept die Krankenkassen gewinnen kann, da diese für ihre Versicherten die Kosten übernehmen können. Genauso wichtig sind die Ärzte. „Wer Medizinprodukte entwickelt, braucht das Vertrauen der Ärzte“, so Land. Schließlich müssen sie ihre Patienten in der Therapie begleiten. Beides hat Land mit seinem Produkt geschafft. Er ist einer von wenigen.
„Wer Medizinprodukte entwickelt, braucht das Vertrauen der Ärzte.“