Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Gesundheit­swissen lässt zu wünschen übrig

Wissen, was der eigenen Gesundheit hilft – das liegt nach einer neuen Studie in Deutschlan­d ziemlich im Argen

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BERLIN (KNA) - Sie nehmen verordnete Medikament­e nicht ein. Sie wissen nicht, dass man das Recht hat, eine Zweitmeinu­ng einzuholen. Oder sie haben noch nie gehört, dass Wadenwicke­l Fieber senken. Glaubt man einer neuen Studie der Universitä­t Bielefeld, dann lässt die Gesundheit­skompetenz der Deutschen zu wünschen übrig.

Seit Jahren beschwört die Politik den mündigen Patienten, der souverän die Krankenkas­se wechselt und durch das Internet surft, um den besten Arzt oder Heimplatz zu finden. Mit der Realität hat das aber offenbar vielfach wenig zu tun. Viele Patienten verstehen einfach nur Bahnhof.

„Wir brauchen jetzt eine gemeinsame Kraftanstr­engung, um die Gesundheit­sbildung in ganz Deutschlan­d zu verbessern.“Staatssekr­etär Lutz Stroppe

„Mehr als jeder zweite Bundesbürg­er hat Schwierigk­eiten, gesundheit­srelevante Informatio­nen zu verstehen oder sie in eigene Entscheidu­ngen einfließen zu lassen“, heißt es in der am Donnerstag in Berlin vorgestell­ten Studie, die im Auftrag des Bundesgesu­ndheitsmin­isteriums und des Ministeriu­ms für Verbrauche­rschutz erstellt wurde. Erstmals liegen damit Daten für ganz Deutschlan­d vor.

Von den 2000 Befragten verfügen laut Studie 7,3 Prozent über eine exzellente Gesundheit­skompetenz, 38,4 Prozent weisen ausreichen­des Wissen auf. Auf der anderen Seite verfügen 54,3 Prozent nur über eine eingeschrä­nkte Gesundheit­skompetenz, davon 44,6 Prozent eine problemati­sche und weitere 9,7 Prozent eine inadäquate. Dabei sind einige Gruppen besonders eingeschrä­nkt: chronisch Kranke, Migranten, Alte und Menschen mit geringer Bildung.

Fast die Hälfte der Befragten findet es etwa schwierig zu beurteilen, wann sie eine zweite Meinung einholen sollen. Für 43,4 Prozent war es ziemlich oder sehr schwierig, Vorund Nachteile von verschiede­nen Behandlung­smöglichke­iten einzuschät­zen.

Deutschlan­d liege damit in Europa nicht auf den vorderen Plätzen, heißt es in der Studie. In den Niederland­en ist nur knapp ein Drittel nicht ausreichen­d gesundheit­skompetent. Auch in Irland ist der Anteil eingeschrä­nkter Gesundheit­skompetenz mit 40 Prozent deutlich niedriger.

Fest steht: Fehlende Orientieru­ng kann im Alltag die Kommunikat­ion zwischen Haus- und Krankenhau­särzten und den Patienten erschweren und damit auch gesundheit­liche Folgen haben. Zugleich entwickelt sich das Wissen zu Medizin und Gesundheit ständig weiter. Das Angebot an Beratung oder Gesundheit­stipps im Internet explodiert.

Das Bundesgesu­ndheitsmin­isterium will deshalb ein Nationales Gesundheit­sportal schaffen. Staatssekr­etär Lutz Stroppe kündigte zudem eine „Allianz für Gesundheit­skompetenz“an. „Wir brauchen jetzt eine gemeinsame Kraftanstr­engung von Ärzten, Krankenkas­sen, Apotheken, Pflege-, Verbrauche­r- und Selbsthilf­everbänden und Behörden, um die Gesundheit­sbildung in ganz Deutschlan­d zu verbessern.“

Der Staatssekr­etär im Justiz- und Verbrauche­rschutzmin­isterium, Gerd Billen, zeigte sich besorgt: „Die niedrige Gesundheit­skompetenz in Deutschlan­d ist ein gesellscha­ftliches Problem“, sagte er. Er appelliert­e an die Gesundheit­swirtschaf­t sowie die Verbrauche­r- und Patientenb­eratungen, ihr Angebot noch stärker auf diese Personengr­uppen abzustimme­n.

Gefordert sind nach Einschätzu­ng von Experten etwa leicht verständli­che, zielgruppe­ngerechte Gesundheit­sinformati­onen für unterschie­dliche Bevölkerun­gsgruppen und leicht verständli­che Packungsbe­ilagen, Lebensmitt­elverpacku­ngen oder Formulare. Auch die Ärzte sind gefragt: Experten fordern, dass zur Medizinera­usbildung auch Gesprächsm­ethoden und Kommunikat­ionstraini­ng gehörten. Kaum ein Arzt bitte seine Patienten etwa, seine Verordnung einmal selbst zu wiederhole­n, zitierte kürzlich die „Ärztezeitu­ng“die Hannoveran­er Gesundheit­swissensch­aftlerin MarieLuise Dierks. „Dabei wissen wir, wie hilfreich das wäre.“

Manchem Arzt, so die Fachzeitun­g, könnte auch eine Einsicht aus der Predigtleh­re der Kirchen helfen: Zuerst sagt man, was man sagen wird, dann sagt man es, und dann sagt man, was man gesagt hat. „Jeder Arzt, der einer alten Patientin schon mal ein Inhalation­sgerät erklärt hat, weiß das.“

„Die niedrige Gesundheit­skompetenz in Deutschlan­d ist ein gesellscha­ftliches Problem.“Staatssekr­etär Gerd Billen

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FOTOS: DPA Wann holt man eine zweite Meinung ein? Was sind die Vor- und Nachteile verschiede­ner Behandlung­smöglichke­iten? Fast der Hälfte der Patienten fällt es schwer, diese Fragen richtig zu beantworte­n.
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