Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Dr. Feelgood muss zum Erneuerer werden
Das böse Wort „Vercoachen“ist in der hitzigen Aufregung nach dem spektakulären 2:4 des FC Bayern bei Real wenn überhaupt moderat verwendet worden. Carlo Ancelottis Vorgänger Pep Guardiola hatte sich das ja drei Jahre in Serie anhören müssen. Der Vorwurf: Er, der große Taktiker und Tüftler, habe immer dann die falschen Entscheidungen getroffen, wenn es mit seinen Münchnern im Halbfinale gegen spanische Clubs gegangen war. Falsche Aufstellung, falsche Wechsel, falsche taktische Ausrichtung. Vercoacht eben.
Nun ist es nicht so, dass einige von Amcelottis Entscheidungen in beiden Viertelfinalbegegnungen nicht mindestens diskussionswürdig waren. Juan Bernat im Hinspiel für Xabi Alonso eingewechselt und die Hoheit im Mittelfeld aufgegeben, Arturo Vidal trotz ständiger Platzverweisgefahr im Rückspiel dringelassen, Robert Lewandowski dafür ausgewechselt. Doch die Ursachen für die zwei Niederlagen gegen Real in der Taktik zu suchen, käme zumindest vordergründig zu kurz.
Real Madrid gegen den FC Bayern München war in diesem Jahr das Duell zweier Mannschaften und Trainer, die sich vor allem über die individuelle Klasse ihrer Spieler definieren. Taktisch agierten die Münchner im Rückspiel reifer als die Madrilenen, die streckenweise den Eindruck machten, das Wort Pressing höchstens vom Hörensagen zu kennen. Doch Thiago war in diesen zwei Spielen eben nicht Toni Kroos, und Cristiano Ronaldo ist ohnehin einzigartig.
Die Versuchsanordnung der Bayern für diese Saison war durchaus interessant: Eine Mannschaft, die alles gewonnen hat, sollte sich unter Carlo Ancelotti, diesem Doctor-Feelgood der Trainerzunft, nach drei unglaublich interessanten, aber fordernden Jahren unter Guardiola noch einmal selbst mit dem größtmöglichen Triumph belohnen. 30,3 Jahre betrug das Durchschnittsalter der Startelf am Dienstag, die Älteste unter Ancelotti. Das Experiment, wenigstens in dieser Saison noch auf die zugegeben hochklassigen, aber eben alternden Stars zu setzen und die Entwicklung von Kader und Taktik hintenanzustellen, ist gescheitert.
Der mit großen Vorschusslorbeeren und für eine noch größere Ablösesumme nach München gekommene Europameister Renato Sanches hat so ein ganzes Jahr seiner Entwicklung verloren. Joshua Kimmich hat eine vielversprechende Vergangenheit unter Guardiola und soll eine strahlende Zukunft als Nachfolger Philipp Lahms oder Xabi Alonsos haben, die sich in wenigen Wochen zur Ruhe setzen. Doch ihm fehlt die Gegenwart. Mit ein wenig mehr Spielpraxis hätte er am Dienstag vor dem 2:3 womöglich ein taktisches Foul begangen, statt hinter Marcelo herzulaufen.
Ancelotti, der schon den AC Milan, Chelsea, Paris Saint-Germain und Real Madrid betreut hat und immer als Trainer für die großen Frühlingsabende galt, muss sich nun als Erneuerer betätigen. Bayern muss im Sommer einen Umbruch einleiten, der nicht bei der Kaderauffrischung – verpflichtet wurden schon die Hoffenheimer Sebastian Rudy und Niklas Süle – enden darf. Der taktisch elaborierteste Fußball wird schon in dieser Saison in Leipzig, Dortmund und Hoffenheim gespielt.