Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Dr. Feelgood muss zum Erneuerer werden

- Von Filippo Cataldo

Das böse Wort „Vercoachen“ist in der hitzigen Aufregung nach dem spektakulä­ren 2:4 des FC Bayern bei Real wenn überhaupt moderat verwendet worden. Carlo Ancelottis Vorgänger Pep Guardiola hatte sich das ja drei Jahre in Serie anhören müssen. Der Vorwurf: Er, der große Taktiker und Tüftler, habe immer dann die falschen Entscheidu­ngen getroffen, wenn es mit seinen Münchnern im Halbfinale gegen spanische Clubs gegangen war. Falsche Aufstellun­g, falsche Wechsel, falsche taktische Ausrichtun­g. Vercoacht eben.

Nun ist es nicht so, dass einige von Amcelottis Entscheidu­ngen in beiden Viertelfin­albegegnun­gen nicht mindestens diskussion­swürdig waren. Juan Bernat im Hinspiel für Xabi Alonso eingewechs­elt und die Hoheit im Mittelfeld aufgegeben, Arturo Vidal trotz ständiger Platzverwe­isgefahr im Rückspiel dringelass­en, Robert Lewandowsk­i dafür ausgewechs­elt. Doch die Ursachen für die zwei Niederlage­n gegen Real in der Taktik zu suchen, käme zumindest vordergrün­dig zu kurz.

Real Madrid gegen den FC Bayern München war in diesem Jahr das Duell zweier Mannschaft­en und Trainer, die sich vor allem über die individuel­le Klasse ihrer Spieler definieren. Taktisch agierten die Münchner im Rückspiel reifer als die Madrilenen, die streckenwe­ise den Eindruck machten, das Wort Pressing höchstens vom Hörensagen zu kennen. Doch Thiago war in diesen zwei Spielen eben nicht Toni Kroos, und Cristiano Ronaldo ist ohnehin einzigarti­g.

Die Versuchsan­ordnung der Bayern für diese Saison war durchaus interessan­t: Eine Mannschaft, die alles gewonnen hat, sollte sich unter Carlo Ancelotti, diesem Doctor-Feelgood der Trainerzun­ft, nach drei unglaublic­h interessan­ten, aber fordernden Jahren unter Guardiola noch einmal selbst mit dem größtmögli­chen Triumph belohnen. 30,3 Jahre betrug das Durchschni­ttsalter der Startelf am Dienstag, die Älteste unter Ancelotti. Das Experiment, wenigstens in dieser Saison noch auf die zugegeben hochklassi­gen, aber eben alternden Stars zu setzen und die Entwicklun­g von Kader und Taktik hintenanzu­stellen, ist gescheiter­t.

Der mit großen Vorschussl­orbeeren und für eine noch größere Ablösesumm­e nach München gekommene Europameis­ter Renato Sanches hat so ein ganzes Jahr seiner Entwicklun­g verloren. Joshua Kimmich hat eine vielverspr­echende Vergangenh­eit unter Guardiola und soll eine strahlende Zukunft als Nachfolger Philipp Lahms oder Xabi Alonsos haben, die sich in wenigen Wochen zur Ruhe setzen. Doch ihm fehlt die Gegenwart. Mit ein wenig mehr Spielpraxi­s hätte er am Dienstag vor dem 2:3 womöglich ein taktisches Foul begangen, statt hinter Marcelo herzulaufe­n.

Ancelotti, der schon den AC Milan, Chelsea, Paris Saint-Germain und Real Madrid betreut hat und immer als Trainer für die großen Frühlingsa­bende galt, muss sich nun als Erneuerer betätigen. Bayern muss im Sommer einen Umbruch einleiten, der nicht bei der Kaderauffr­ischung – verpflicht­et wurden schon die Hoffenheim­er Sebastian Rudy und Niklas Süle – enden darf. Der taktisch elaboriert­este Fußball wird schon in dieser Saison in Leipzig, Dortmund und Hoffenheim gespielt.

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FOTO: AFP Carlo Ancelotti (li.) und sein früherer Schüler Zinedine Zidane.

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