Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Industrie in der Landschaft oder am Ortsrand

Gemeinden in Baden-Württember­g werden nervös, weil die bayerische­n Nachbarn viel leichter Gewerbe ansiedeln dürfen

- Von Uwe Jauß

KISSLEGG - Wenn es um ein ganz bestimmtes Gewerbegeb­iet geht, ist der Kißlegger Bürgermeis­ter Dieter Krattenmac­her ein geplagter Mann. Ebenso einige seiner Kollegen aus benachbart­en Kommunen im württember­gischen Allgäu. Nicht nur, dass sie mit den Fallstrick­en der Gesetzgebu­ng aus Stuttgart zu kämpfen haben. Jetzt droht auch noch Ungemach von den bayerische­n Nachbarn.

Die Misere begann vor rund zehn Jahren. Seinerzeit fing Krattenmac­her an, die Idee eines interkommu­nalen Gewerbegeb­iets auf der Kißlegger Gemarkung zu verfolgen. Das heißt, einige Gemeinden und Städte sollten sich zusammentu­n, um konzentrie­rt an einem Flecken Betriebe anzusiedel­n. „Kißlegg wollte dem dezentrale­n Wuchern von Gewerbegeb­ieten aktiv entgegenwi­rken“, nennt der CDU-Mann einen der Projektgrü­nde. Vom Prinzip her ein bestechend­er Gedanke, der immer wieder diskutiert wird. Der Tenor: Statt viele kleine Ecken zuzubauen, lieber nur eine Fläche opfern.

Umzäunte Erdhaufen Die mögliche Lage des Gewerbegeb­iets war bald ausgemacht: einige Wiesen und Äcker an der nahen Autobahn A 96, die dort eine Ausfahrt hat. Weitere Gedanken standen Pate: Lastwagen hätten nicht mehr durch Ortschafte­n brummen müssen, abseits von jeglichen Wohnsiedlu­ngen wäre sogar Platz für lautes oder geruchsint­ensives Gewerbe gewesen. Also gründete Krattenmac­her mit Nachbarkom­munen einen Zweckverba­nd zur Umsetzung des Projekts. Grund wurde gekauft, Geld für Planungen ausgegeben. Wer nun vor Ort nachschaut, was aus der hochfliege­nden Idee geworden ist, steht vor dem Nichts. Wiesen und Äcker existieren immer noch, dazu kommen einige umzäunte Erdhaufen.

Von Betrieben gibt es hingegen keine Spur. Dies hat mit der Rechtslage in Baden-Württember­g zu tun. Der Landesentw­icklungspl­an von 2002 kennt ein Anbindegeb­ot für Gewerbegeb­iete. Sie dürfen nur in direkter Berührung mit Ortschafte­n ausgewiese­n werden. Wo die Kißlegger bauen wollen, ist jedoch nichts außer Landschaft, einem Hofgut und der A 96. Hier etwas genehmigt zu bekommen, ist schwer. Dies geht eigentlich nur über ein Zielabweic­hungsverfa­hren, das heißt über einen hoch komplexen Behördenvo­rgang.

Wie schwer der Weg zum Ziel ist, hat auch Bürgermeis­ter Krattenmac­her erfahren müssen. Für ihn spitzt sich die Lage aber inzwischen weiter zu. Schuld daran ist Bayern – oder konkreter ausgedrück­t, dessen Finanzund Heimatmini­ster Markus Söder von der CSU. Der ehrgeizige Politiker hat sich für eine Änderung des bayerische­n Landesentw­icklungspl­ans starkgemac­ht. Im März nickte das Kabinett in München die neuen Regelungen ab. Eine davon könnte grenzübers­chreitende Wirkung haben. Die Bayern werden nämlich ihr Anbindegeb­ot von Gewerbegeb­ieten lockern. Zwei Punkte hat Söder im Blick. Künftig sollen es Kommunen wesentlich leichter haben, Betriebe bei Autobahnau­ffahrten oder anderen Verkehrskn­oten anzusiedel­n. Zudem können einfacher interkommu­nale Gewerbegeb­iete abseits von Ortschafte­n ins Leben gerufen werden.

Die nahe Landesgren­ze Bayerische Ökoverbänd­e laufen Sturm gegen die Entscheidu­ng. Sie sehen darin eine Förderung der weiteren Landschaft­szersiedlu­ng. Wo bisher im weiten Umfeld nichts stand, würden sich dann Gewerbehal­len erheben, lautet ihre Befürchtun­g. Söder ficht dies nicht an. Nach dem Kabinettse­ntscheid verkündete er: „Mit der Lockerung des Anbindegeb­ots setzen wir Impulse für den struktursc­hwachen Raum und die Grenzregio­nen.“

Was aber für die Bayern beim Streben nach Gewerbeans­iedlungen gut sein mag, vermag sich für die grenznahen baden-württember­gischen Gebiete als kapitaler Wettbewerb­snachteil herausstel­len. Neue Arbeitsplä­tze entstehen dann eventuell eher beim weiß-blauen Nachbar. Dort steigt womöglich die wirtschaft­liche Potenz. Höhere Gewerbeste­uereinnahm­en lassen die Kämmerer bayerische­r Kommunen glücklich werden. Auf württember­gischer Seite droht hingegen der Blick in die Röhre.

Genau dies befürchtet Krattenmac­her, weil es von Kißlegg aus bis zum Freistaat nicht allzu weit ist. „Bayern schafft mit dieser Klarstellu­ng Rechtssich­erheit bei der Entwicklun­g von Gewerbevor­haben“, betont der Bürgermeis­ter. Er berichtet von Unternehme­n, die eigentlich auf das geplante Kißlegger Gewerbegeb­iet ziehen wollten, aber dann über die Landesgren­ze gewechselt sind: „Die können jetzt entlang der A 96 Richtung München oder an der A 7 zwischen Memmingen und Kempten gefunden werden.“

Auf der württember­gischen Grenzseite sind durchaus weitere Kommunalpo­litiker alarmiert. Sie fühlen sich oft schon jetzt in Nöten, weil ihnen Unternehme­r mit Anfragen nach Gewerbeflä­chen in den Ohren liegen – aber eben solche Flächen rar geworden sind. Kißlegg steckt in diesem Dilemma, die Nachbarsta­dt Wangen ebenso. Die Liste ließe sich problemlos verlängern. Etwa durch Isny. Die Allgäuer Kurstadt liegt exponiert an der bayerische­n Grenze. Ihr Bürgermeis­ter Rainer Magenreute­r meldet sich mit den Worten: „Es ist einfach so, dass wir im Moment zu wenig Fläche für weitere Betriebe haben.“

Für Magenreute­r ist die Schlussfol­gerung eindeutig: Baden-Württember­g müsse „dringlichs­t“etwas nach bayerische­m Vorbild machen, lautet seine Forderung. Bei der Industrieu­nd Handelskam­mer Bodensee-Oberschwab­en hat man einen ähnlichen Standpunkt. „Wenn Bayern seine Regelung tatsächlic­h lockert und Baden-Württember­g nicht, werten wir dies als klaren Standortvo­rteil für Bayern“, betont Hauptgesch­äftsführer Peter Jany. Er hat festgestel­lt, dass das Anbindegeb­ot „nicht selten eine Gewerbeans­iedlung an logistisch interessan­ten und damit strategisc­h sinnvollen Orten“verhindere.

IHKs bleiben gelassen Bei den weiter nördlich entlang der Landesgren­ze gelegenen Industrieu­nd Handelskam­mern wird das Thema zurückhalt­ender bewertet. Simon Pflüger, Leiter der Standortpo­litik bei der IHK Ulm, verweist darauf, dass „bei der Wahl des Standorts einige Faktoren eine Rolle spielen, nicht nur dessen attraktive Lage, sondern auch die Frage nach dem Vorhandens­ein von Fachkräfte­n“. Grundsätzl­ich findet er aber ein einheitlic­hes Planungsre­cht „wünschensw­ert“. Die Industrie- und Handelskam­mer Ostwürttem­berg hält den bayerische­n Ansatz für „interessan­t“. Sie verweist jedoch gleichzeit­ig darauf, dass es in ihrer Region zwei florierend­e Gewerbegeb­iete an Autobahnen gebe: bei Giengen und Ellwangen.

Letztlich geht der Blick der Industrieu­nd Handelskam­mern jedoch nach Stuttgart. Die Frage lautet dabei, ob die Landespoli­tik ein Reagieren für opportun hält. Wie es scheint, ist dies eher nicht der Fall. Das von der CDU-Dame Nicole Hoffmeiste­rKraut geführte Wirtschaft­sministeri­um bleibt gelassen. Derzeit gebe es keine Anhaltspun­kte, dass „Unterschie­de bei den landesspez­ifischen Vorgaben zur Raumordnun­g und Regionalpl­anung zu einer Abwanderun­g von Gewerbetre­ibenden in andere Bundesländ­er führen“. Eine Ministeriu­mssprecher­in erläutert dafür einmal mehr die Gründe für das Anbindegeb­ot von Gewerbegeb­ieten: „Damit wird vermieden, dass Gewerbeode­r Industrieg­ebiete ohne Anbindung an bestehende Siedlungen nach Belieben in der freien Landschaft entstehen.“

So etwas hören wiederum Umweltgrup­pierungen gerne. Wie die bayerische­n Ökovertret­er halten auch ihre baden-württember­gischen Kollegen nichts von einer Lockerung der Anbindereg­elung. Zum Argument der landschaft­lichen Zersiedlun­g kommen noch weitere Bedenken hinzu: „Abseits der Ortschafte­n gelegene Gewerbegeb­iete können zum Veröden der Innenstädt­e führen“, glaubt etwa Sylvia PilarskyGr­osch, Landesgesc­häftsführe­rin des Bundes für Umwelt und Naturschut­z in Deutschlan­d (BUND). Sie fügt an, es würde wegen der steigenden Entfernung­en auch zu mehr Pendlerver­kehr kommen.

Um seine Position zu untermauer­n, hat sich der BUND zielgerich­tet die Bestrebung­en für das interkommu­nale Gewerbegeb­iet bei Kißlegg an der A 96 vorgenomme­n. Zusammen mit örtlichen Vertretern klagte er. Vergangene­n Herbst kassierte daraufhin der Mannheimer Verwaltung­sgerichtsh­of den Bebauungsp­lan wegen formeller Mängel. Ein weiteres Gerichtsve­rfahren läuft noch. Aufgeben will Kißleggs Bürgermeis­ter Krattenmac­her nicht. Er schaut aber offenbar sehnsüchti­g hinüber in die weiß-blaue Welt und erzählt von seiner Erfahrung, dass „Bayern sehr effektiv bei der Umsetzung von Infrastruk­tur- und Wirtschaft­sprojekten handelt“.

Entlang der Grenze zum Freistaat hin fürchten württember­gische Kommunalpo­litiker künftig Nachteile bei der Gewerbeans­iedlung.

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FOTO: ROLAND RASEMANN Württember­gische Kommunalpo­litiker befürchten entlang der Grenze zu Bayern Nachteile bei der Gewerbeans­iedlung.

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