Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Kultur leben

- Von Michael Borrasch

Dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis auch im Ravensburg­er Kunstmuseu­m eine Sonderauss­tellung zum Werk des Expression­isten Ernst Ludwig Kirchner gezeigt wird. Immerhin wurde mit einem Kirchner-Blatt die Sammlung Selinka Anfang der 1950er-Jahre überhaupt gestartet. Alle, die das Werk des berühmten „Brücke“-Künstlers schätzen, sollten bis zum 7. Mai noch die Kirchner-Schau im Kunsthaus Zürich besuchen.

Leihgaben aus Australien, den USA, aus Madrid, Privatsamm­lungen und natürlich dem Brücke-Museum Berlin bieten höchste Qualität. Im Zentrum der Schau stehen die äußerst ertragreic­hen Jahre von 1911 bis 1917. Von Dresden nach Berlin gekommen, entwickelt­e sich Kirchners Stil, indem er die vielfältig­en Eindrücke der Millionens­tadt aufgreift – interessan­t die Vergleiche mit ebenfalls gezeigten Beispielwe­rken aus der früheren Phase. „Ich muss zeichnen bis zur Raserei (…). Meine Form entsteht so, dass ich in der Ekstase des Erlebens in der Skizze neue Formgestal­t finde, die im Bild kristallis­iert und fest wird“, notierte der Künstler später.

In die gleiche Lebenszeit fallen auch ausführlic­he Aufenthalt­e auf der Ostseeinse­l Fehmarn. Unter dem Titel „Großstadtr­ausch/Naturidyll“untersucht die Züricher Ausstellun­g durch die Gegenübers­tellung der Stadt/Land-Sujets die besondere Dynamik des damaligen Kirchner-Schaffens. Diese entstand auch durch persönlich­e Extremerfa­hrungen: unüberwind­bare Meinungsve­rschiedenh­eiten führten 1913 zur Auflösung der „Brücke“Gemeinscha­ft. „Dennoch und trotz des harten Existenzka­mpfes fasziniert­e Kirchner die Großstadt Berlin nach wie vor, und er sollte sie sich in den folgenden zwei Jahren weiter künstleris­ch aneignen“, schreibt Martina Pfister im hervorrage­nd gemachten Katalog zur Ausstellun­g (Hirmer Verlag). Etliche gezeigte Arbeiten verdeutlic­hen Kirchners Erfahrunge­n als „Stadtindia­ner“, etwa „Nollendorf­platz“(1912), das eher unbekannte „Straße am Stadtpark Schöneberg“(1912/13) mit untypische­r Farbreduzi­erung auf Graubraun und Blau oder der Blick aus dem Atelierfen­ster auf die „Eisenbahnü­berführung“(1914). Natürlich fehlen auch die aufgedonne­rten Kokotten nicht, aus dem Museum of Modern Art New York kam „Die Straße“nach Zürich.

Wie Kirchner seinen ländlichen Sehnsuchts­ort Fehmarn in Szene setzte, kann als Kontrast und Ergänzung gesehen werden. Auf der Insel wollte der damals 33-jährige Künstler ein ursprüngli­ches Leben in der Natur führen, herrliche Akte in freier Landschaft ebenso wie die Darstellun­gen der Küste zeugen davon. „Neben Figuren- und Landschaft­sdarstellu­ngen entstand auf Fehmarn auch eine dritte Bildgruppe, die die Bauwerke der Insel zum Motiv hat. (…) Leuchtturm Staberhuk, Fehmarn (1912) ist ein gutes Beispiel dafür wie Kirchner sich von real existieren­den Motiven inspiriere­n ließ und sie in die eigene Bildsprach­e übersetzte“, so Pfister im Katalog.

borrasch@gmx.de

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