Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Kultur leben
Dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis auch im Ravensburger Kunstmuseum eine Sonderausstellung zum Werk des Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner gezeigt wird. Immerhin wurde mit einem Kirchner-Blatt die Sammlung Selinka Anfang der 1950er-Jahre überhaupt gestartet. Alle, die das Werk des berühmten „Brücke“-Künstlers schätzen, sollten bis zum 7. Mai noch die Kirchner-Schau im Kunsthaus Zürich besuchen.
Leihgaben aus Australien, den USA, aus Madrid, Privatsammlungen und natürlich dem Brücke-Museum Berlin bieten höchste Qualität. Im Zentrum der Schau stehen die äußerst ertragreichen Jahre von 1911 bis 1917. Von Dresden nach Berlin gekommen, entwickelte sich Kirchners Stil, indem er die vielfältigen Eindrücke der Millionenstadt aufgreift – interessant die Vergleiche mit ebenfalls gezeigten Beispielwerken aus der früheren Phase. „Ich muss zeichnen bis zur Raserei (…). Meine Form entsteht so, dass ich in der Ekstase des Erlebens in der Skizze neue Formgestalt finde, die im Bild kristallisiert und fest wird“, notierte der Künstler später.
In die gleiche Lebenszeit fallen auch ausführliche Aufenthalte auf der Ostseeinsel Fehmarn. Unter dem Titel „Großstadtrausch/Naturidyll“untersucht die Züricher Ausstellung durch die Gegenüberstellung der Stadt/Land-Sujets die besondere Dynamik des damaligen Kirchner-Schaffens. Diese entstand auch durch persönliche Extremerfahrungen: unüberwindbare Meinungsverschiedenheiten führten 1913 zur Auflösung der „Brücke“Gemeinschaft. „Dennoch und trotz des harten Existenzkampfes faszinierte Kirchner die Großstadt Berlin nach wie vor, und er sollte sie sich in den folgenden zwei Jahren weiter künstlerisch aneignen“, schreibt Martina Pfister im hervorragend gemachten Katalog zur Ausstellung (Hirmer Verlag). Etliche gezeigte Arbeiten verdeutlichen Kirchners Erfahrungen als „Stadtindianer“, etwa „Nollendorfplatz“(1912), das eher unbekannte „Straße am Stadtpark Schöneberg“(1912/13) mit untypischer Farbreduzierung auf Graubraun und Blau oder der Blick aus dem Atelierfenster auf die „Eisenbahnüberführung“(1914). Natürlich fehlen auch die aufgedonnerten Kokotten nicht, aus dem Museum of Modern Art New York kam „Die Straße“nach Zürich.
Wie Kirchner seinen ländlichen Sehnsuchtsort Fehmarn in Szene setzte, kann als Kontrast und Ergänzung gesehen werden. Auf der Insel wollte der damals 33-jährige Künstler ein ursprüngliches Leben in der Natur führen, herrliche Akte in freier Landschaft ebenso wie die Darstellungen der Küste zeugen davon. „Neben Figuren- und Landschaftsdarstellungen entstand auf Fehmarn auch eine dritte Bildgruppe, die die Bauwerke der Insel zum Motiv hat. (…) Leuchtturm Staberhuk, Fehmarn (1912) ist ein gutes Beispiel dafür wie Kirchner sich von real existierenden Motiven inspirieren ließ und sie in die eigene Bildsprache übersetzte“, so Pfister im Katalog.
borrasch@gmx.de