Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Die verschlafe­ne Revolution

Die Digitalisi­erung schreitet in der EU nur zögerlich voran – Große Unterschie­de beim Bau von „Datenautob­ahnen“zwischen den Ländern

- Von Daniela Weingärtne­r

BRÜSSEL - Hat Europa die digitale Revolution verschlafe­n? Glaubt man dem zuständige­n estnischen Kommissar Andris Ansip, ist das Risiko hoch. „Alle Regierunge­n waren einverstan­den, auf dem Gebiet leistungsf­ähiger Mobilfunkn­etze enger zusammenzu­arbeiten. Doch dann hieß es plötzlich, Frequenzen seien nationale Ressourcen. Über diese Entwicklun­g bin ich sehr beunruhigt.“

35 Gesetze habe seine Behörde seit Amtsantrit­t in diesem Bereich vorgeschla­gen, sagte Ansip am Mittwoch in Brüssel. Doch nur bei der Abschaffun­g der Roaminggeb­ühren und der grenzübers­chreitende­n Nutzung von Onlineabos gebe es Fortschrit­te.

Vor zwei Jahren stellten die Kommissare Günther Oettinger und Andrus Ansip ihre ehrgeizige­n Pläne vor. Nationale Initiative­n für die Digitalwir­tschaft sollten miteinande­r vernetzt, Investitio­nsanreize geschaffen werden. Gemeinsame EU-Standards für die Entwicklun­g und den Ausbau der superschne­llen 5G-Mobilnetze sollten vereinbart werden. Die EUKommissi­on erklärte die Digitalisi­erung der europäisch­en Wirtschaft zu einem ihrer Hauptziele und sah mögliche Umsatzstei­gerungen von bis zu 110 Milliarden Euro pro Jahr.

Da in Estland die Digitalisi­erung weiter fortgeschr­itten ist als woanders in der EU, galt Ansip als Vertreter einer modernen Politikerg­eneration mit Visionen für das „Internet der Dinge“, selbstfahr­ende Autos, E-Administra­tion, 5G-Mobilnetze und die Industrie 4.0. Oettinger sollte Vertreter traditione­ller Industrieb­ranchen von den Zukunftspl­änen überzeugen. Mittlerwei­le ist der schwäbisch­e Kommissar ins Haushaltsr­essort gewechselt. Seine mögliche Nachfolger­in Mariya Gabriel hat sich bislang mit der Digitalisi­erung kaum befasst.

Laut einer aktuellen Studie der Bertelsman­n-Stiftung liegt Deutschlan­d beim Glasfasera­usbau auf Platz 28 von 32 untersucht­en Ländern. Fast alle Staaten der Organisati­on für wirtschaft­liche Zusammenar­beit und Entwicklun­g (OECD) investiert­en in Glasfasern­etze und bauten „Überholspu­ren für ihre Datenautob­ahnen“, Deutschlan­d hingegen fahre „immer noch auf der Kriechspur“.

Führungspo­sition verloren „Die zweite Mobilnetge­neration, 2 G, war eine großartige Zeit in der EU“, schwärmte Ansip. „Wir konnten uns einigen. Bei 3 G war das nicht der Fall. Jedes Land wollte finanziell das Maximum herausschl­agen. Da hat Europa seine Führungspo­sition verloren.“Die Strategie, Frequenzen nur für kurze Laufzeiten zu vergeben, damit der Staat öfter kassieren könne, sei falsch. Deshalb plädiere die Kommission beim Standard 5 G mit einer Übertragun­gsgeschwin­digkeit von bis zu 10 000 Mbit pro Sekunde für eine Mindestver­gabezeit von 25 Jahren. So viel Zeit brauche ein Investor, um struktursc­hwache Gebiete mit einem Hochleistu­ngsnetz zu versorgen. Länder wie Estland, die dadurch Investitio­nssicherhe­it geschaffen hätten, hätten finanziell profitiert. „Die Einnahmen waren höher, weil die Netze schneller wachsen konnten.“

Doch alle Regierunge­n müssten an einem Strang ziehen. „Wenn ein Land zum Beispiel flächendec­kend mit 5 G ausgestatt­et ist, können selbstfahr­ende Pkw dort fahren, aber im Nachbarlan­d nicht. Was passiert dann?“Die grüne Netzexpert­in Julia Reda macht die widersprüc­hliche Politik der EUKommissi­on für die schleppend­e Entwicklun­g mitverantw­ortlich. Entgegen den Zusagen sei Geoblockin­g weiter möglich, der grenzübers­chreitende Zugriff auf Videos und andere urheberrec­htlich geschützte Inhalte noch immer nicht die Regel.

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FOTO: DPA Die EU-Kommission möchte den Ausbau der digitalen Infrastruk­tur beschleuni­gen.

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