Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Die verschlafene Revolution
Die Digitalisierung schreitet in der EU nur zögerlich voran – Große Unterschiede beim Bau von „Datenautobahnen“zwischen den Ländern
BRÜSSEL - Hat Europa die digitale Revolution verschlafen? Glaubt man dem zuständigen estnischen Kommissar Andris Ansip, ist das Risiko hoch. „Alle Regierungen waren einverstanden, auf dem Gebiet leistungsfähiger Mobilfunknetze enger zusammenzuarbeiten. Doch dann hieß es plötzlich, Frequenzen seien nationale Ressourcen. Über diese Entwicklung bin ich sehr beunruhigt.“
35 Gesetze habe seine Behörde seit Amtsantritt in diesem Bereich vorgeschlagen, sagte Ansip am Mittwoch in Brüssel. Doch nur bei der Abschaffung der Roaminggebühren und der grenzüberschreitenden Nutzung von Onlineabos gebe es Fortschritte.
Vor zwei Jahren stellten die Kommissare Günther Oettinger und Andrus Ansip ihre ehrgeizigen Pläne vor. Nationale Initiativen für die Digitalwirtschaft sollten miteinander vernetzt, Investitionsanreize geschaffen werden. Gemeinsame EU-Standards für die Entwicklung und den Ausbau der superschnellen 5G-Mobilnetze sollten vereinbart werden. Die EUKommission erklärte die Digitalisierung der europäischen Wirtschaft zu einem ihrer Hauptziele und sah mögliche Umsatzsteigerungen von bis zu 110 Milliarden Euro pro Jahr.
Da in Estland die Digitalisierung weiter fortgeschritten ist als woanders in der EU, galt Ansip als Vertreter einer modernen Politikergeneration mit Visionen für das „Internet der Dinge“, selbstfahrende Autos, E-Administration, 5G-Mobilnetze und die Industrie 4.0. Oettinger sollte Vertreter traditioneller Industriebranchen von den Zukunftsplänen überzeugen. Mittlerweile ist der schwäbische Kommissar ins Haushaltsressort gewechselt. Seine mögliche Nachfolgerin Mariya Gabriel hat sich bislang mit der Digitalisierung kaum befasst.
Laut einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung liegt Deutschland beim Glasfaserausbau auf Platz 28 von 32 untersuchten Ländern. Fast alle Staaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) investierten in Glasfasernetze und bauten „Überholspuren für ihre Datenautobahnen“, Deutschland hingegen fahre „immer noch auf der Kriechspur“.
Führungsposition verloren „Die zweite Mobilnetgeneration, 2 G, war eine großartige Zeit in der EU“, schwärmte Ansip. „Wir konnten uns einigen. Bei 3 G war das nicht der Fall. Jedes Land wollte finanziell das Maximum herausschlagen. Da hat Europa seine Führungsposition verloren.“Die Strategie, Frequenzen nur für kurze Laufzeiten zu vergeben, damit der Staat öfter kassieren könne, sei falsch. Deshalb plädiere die Kommission beim Standard 5 G mit einer Übertragungsgeschwindigkeit von bis zu 10 000 Mbit pro Sekunde für eine Mindestvergabezeit von 25 Jahren. So viel Zeit brauche ein Investor, um strukturschwache Gebiete mit einem Hochleistungsnetz zu versorgen. Länder wie Estland, die dadurch Investitionssicherheit geschaffen hätten, hätten finanziell profitiert. „Die Einnahmen waren höher, weil die Netze schneller wachsen konnten.“
Doch alle Regierungen müssten an einem Strang ziehen. „Wenn ein Land zum Beispiel flächendeckend mit 5 G ausgestattet ist, können selbstfahrende Pkw dort fahren, aber im Nachbarland nicht. Was passiert dann?“Die grüne Netzexpertin Julia Reda macht die widersprüchliche Politik der EUKommission für die schleppende Entwicklung mitverantwortlich. Entgegen den Zusagen sei Geoblocking weiter möglich, der grenzüberschreitende Zugriff auf Videos und andere urheberrechtlich geschützte Inhalte noch immer nicht die Regel.