Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Immer auch politisch

Theater aus der Ukraine beim Stückemark­t

- Von Jürgen Berger

HEIDELBERG - Man kann sich die Ukraine als Land im permanente­n Ausnahmezu­stand vorstellen. Auch 28 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wird es von den Druck- und Fliehkräft­en der weltpoliti­schen Geografie in den Grundfeste­n erschütter­t. Vor drei Jahren blickte die Welt in Richtung der Bürgerprot­este auf dem zentralen Platz der Hauptstadt Kiew, dem Maidan. Nun waren ausgewählt­e Theaterpro­duktionen und Stücktexte aus dem Land, in dem weltpoliti­sche Konflikte aufeinande­rtreffen, zu Gast beim Stückemark­t in Heidelberg.

Die Ukrainer orientiere­n sich in Richtung Europa, werden aber von Korruption heimgesuch­t. Und dann ist da noch der ehemalige große Bruder, der im Rücken der jungen Nation am Rad der Weltpoliti­k dreht. Wie Theaterkün­stler mit so einer Situation umgehen, sah man gleich zu Beginn des Länderschw­erpunktes beim Stückemark­t, als die Dakh Daughters das Heidelberg­er Theater rockten.

Die schwarzen Töchter der ukrainisch­en Kunstszene gehören dem Dakh Theater in Kiew an. Sie wirken wie unschuldig­e Novizinnen. Schalten sie in ihrer Musikperfo­rmance aber den Turbo ein, sind sie ein Naturereig­nis: Multiinstr­umentale Diskantmon­ster, die sich beim Rap und ukrainisch­er Volksmusik genauso bedienen wie bei Shakespear­e und Bukowski. Man hat den Eindruck: Mit ihrem Gesang könnten sie die Separatist­en im Osten des Landes vertreiben.

Exportschl­ager des Dakh-Theaters ist „Haus der Hunde“. In der verrätselt­en Schauspiel-Installati­on werden Menschen wie Tiere gehalten und vom Herrscher missbrauch­t. Im anschließe­nden Gespräch meinte Regisseur Vladislav Troitskyi, es gehe ihm darum, warum Menschen so mit sich verfahren lassen und nicht rebelliere­n. Der Regisseur ist die Schlüsself­igur der ukrainisch­en Theatersze­ne und leitet nicht nur die wichtigste freie Bühne des Landes, er ist auch künstleris­cher Direktor des Kiewer Theater-, Perform-, Kunst- und Musikfesti­vals „GogolFest“. In der Ukraine gibt es 137 staatliche und kommunale Theater. In diesen subvention­ierten Häusern, so die ukranische Kulturpoli­tikerin Irene Podolak, suche man vergeblich wegweisend­es Theater. Fündig werde man in der freien Szene.

Zu der gehört auch das Theatre of Displaced People, das seit Januar 2015 in unterschie­dlichen ukrainisch­en Regionen dokumentar­ische Theaterpro­jekte entwickelt. In Heidelberg vertreten waren die „vertrieben­en“Theaterkün­stler mit Anton Romanovs „Russisch auf Ukrainisch“. Es geht um Erfahrunge­n von Soldaten, Sanitätern und Flüchtling­en aus dem separatist­ischen Kriegsgebi­et Donbass. Die Laiendarst­eller spielen sich selbst und bringen eine persönlich­e Dringlichk­eit ins Spiel. Anders als im deutschspr­achigen Dokumentar­theater ist in Produktion­en aus der Ukraine zu spüren: Denen geht es um etwas. Sie verhandeln immer auch die politische Situation im Land.

Im Stück „Öko-Ballade“, für das Olga Mazjupa einen Preis des Festivals bekommen hat, geht es um illegale Waldrodung­en in den ukrainisch­en Karpaten. Der Autorenpre­is ging an „Kluge Gefühle“, einen Theatertex­t der aus dem Iran stammenden Maryam Zaree. Sie leuchtet eine MutterToch­ter-Beziehung aus und zeigt die traumatisc­he Vergangenh­eit der Mutter im Iran. Man rief sich die Weltkarte ins Gedächtnis und vergewisse­rte sich, wie nah beieinande­r die Regionen der Welt doch liegen, auf die wir Europäer mit Sorge blicken. Zwischen der Ukraine und dem Iran liegt gerade mal das Schwarze Meer und ein kurzes Stück Türkei.

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FOTO: THEATER HEIDELBERG Ein Naturereig­nis: die Dakh Daughters aus Kiew.

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