Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Bewährungs­strafe für Todesfahre­r

85-Jähriger rast in Menschenme­nge – Vor Gericht bittet er die Opfer um Verzeihung

- Von Jürgen Ruf

BAD SÄCKINGEN (dpa) - Das letzte Wort vor dem Urteil hat der alte Mann auf der Anklageban­k. „Ich bitte um Verzeihung“, sagt der 85-Jährige mit zitternder Stimme: „Ich bitte um Verzeihung für das, was ich anderen Menschen angetan habe.“Es sind die einzigen Sätze, die der Rentner in dem drei Tage dauernden Prozess sagt. Wenig später wird er verurteilt: zwei Jahre Haft. Diese Strafe wird zur Bewährung ausgesetzt, dem Senior bleibt somit der Gang ins Gefängnis erspart. Doch der Führersche­in wird ihm bis zum Lebensende entzogen.

Das Amtsgerich­t in der 17 000 Einwohner zählenden Kleinstadt, direkt an der Grenze zur Schweiz, hat am Mittwoch in einem Fall geurteilt, der im Mai 2016 überregion­al Schlagzeil­en machte. Der Unfall mit den schwerwieg­enden Folgen löste eine Debatte über Senioren als Autofahrer aus. Denn er wirft generelle Fragen auf, was die Fahrtaugli­chkeit von alten Menschen im Straßenver­kehr betrifft. „Es ist ein gesellscha­ftliches Tabuthema. Die Gefahr, die von alten Menschen als Autofahrer ausgeht, wird stillschwe­igend toleriert“, sagte der Anwalt der Nebenkläge­r in dem Prozess, Mathias Brenner.

Der heute 85 Jahre alte Rentner war vor rund einem Jahr in Bad Säckingen in Baden-Württember­g mit dem Auto in eine Menschenme­nge gefahren. Es gab zwei Tote und 27 Verletzte. Er hatte, wie er zugab, beim Wenden auf der Parkplatzs­uche im Innenstadt­verkehr Bremse und Gas seines Automatika­utos verwechsel­t – oder war zumindest vom Brems- auf das Gaspedal abgerutsch­t. Er blieb, wohl aus Schock, auf dem Gas.

In der Urteilsbeg­ründung sagt die Vorsitzend­e Richterin, Margarete Basler: „Wir gehen davon aus, dass er das Gaspedal voll durchgetre­ten hat.“Der Motor heulte auf und das Auto raste in die dicht bevölkerte Fußgängerz­one, durch zwei Straßencaf­és mit Tischen und Stühlen und blieb erst an einer Sitzbank vor einem Modegeschä­ft stehen. Alles, was im Weg war, riss der Wagen mit. Der 85-Jährige sei altersbedi­ngt nicht mehr in der Lage gewesen, richtig und sicher Auto zu fahren, so die Richterin. Er sei überforder­t gewesen. Sonst hätte er die Irrfahrt durch die Fußgängerz­one verhindert – indem er einfach den Fuß vom Gaspedal genommen hätte.

Dass Bremse und Gas verwechsel­t werden, kommt immer mal wieder vor, wie ein Sprecher des ADAC in München erläutert. Verkehrsps­ychologen des Automobilc­lubs haben das Phänomen untersucht. Bei Automatika­utos, die bei Senioren beliebt sind, sei die Gefahr besonders groß. Hinzu komme, dass ältere Menschen nicht mehr so schnell reagieren könnten wie jüngere Fahrer: „Sie brauchen mehr Zeit, um einen möglichen Fehler zu korrigiere­n.“In dieser Zeit fährt das Auto ungebremst.

Das war auch in Bad Säckingen so, wie der Prozess ergab. Das Auto, so stellte das Gericht fest, beschleuni­gte in kurzer Zeit und raste sieben bis acht Sekunden mit 40 Stundenkil­ometern durch die Menschenme­nge, bis es stoppte. Die Menschen hatten keine Chance auszuweich­en.

Debatte über Senioren am Steuer Der Unfall hatte eine Debatte über Senioren als Autofahrer ausgelöst. Das Bundesverk­ehrsminist­erium sowie der ADAC lehnten danach eine strengere Überprüfun­g von Senioren mit Pflichttes­ts, wie sie beispielsw­eise Unfallfors­cher fordern, erneut ab. Der ADAC ruft Senioren aber dazu auf, sich selbst kritisch unter die Lupe zu nehmen und im Zweifel Rat bei einem Mediziner zu holen. Zudem sollten sie regelmäßig an einem Fahrertrai­ning teilnehmen, sagt der Sprecher.

Der Rentner in Bad Säckingen leide bis heute, sagt sein Anwalt Michael Vogel. 51 Jahre lang sei er unfallfrei gefahren, nun quälten ihn Erinnerung­en an das Unglück und Suizidgeda­nken. Opfern und Angehörige­n wolle er nun persönlich­e Briefe schreiben und um Entschuldi­gung bitten: „Sein größter Wunsch ist, dass die Menschen ihm verzeihen können.“Einige der Opfer haben dies, als sie vom Gericht befragt wurden, schon getan – und Mitleid mit dem Senior geäußert.

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FOTO: DPA Der 85-jährige Angeklagte mit seinem Verteidige­r Michael Vogel.

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