Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Ein Mensch ist vor allem ein Mensch
Christoph Freunds Stadtführung zu jüdischen Spuren in Ravensburg war erhellend
RAVENSBURG - Zum 40-jährigen Bestehen der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Begegnung gestaltete Christoph Freund eine Stadtführung, die überraschende Annäherungen an die Geschichte der Juden in dieser Stadt bot.
Mit einem Schmunzeln stellte er zu Beginn seine eigene, bunt zusammengewürfelte Familiengeschichte vor: ein Viertel, ein Achtel von Vielem, hugenottisch, deutsch, katholisch und jüdisch, ein deutscher und ein französischer Pass und noch einiges mehr. Was amüsant klingt, wird im Laufe der Führung „brandgefährlich“, wie er sagt, wenn er am ehemals jüdischen und nach 1933 „arisierten“ Kaufhaus Knopf am Marienplatz die Definitionen der Nazis von deutscher Gemeinschaft, Ariern und Volksgenossen vorliest, die erschreckend ähnlich klingen wie das Geschwafel der heutigen „Reichsbürger“.
Seit dem ersten Juden-Pogrom in der Freien Reichsstadt, 1349, wurde bis zum Faschismus das getan, erklärt Christoph Freund, was bis heute in so vielen Ländern noch immer praktiziert wird: Menschen waren nicht mehr Menschen, gleich welchen Geschlechts, Glaubens, Stand oder Klasse, sondern sie wurden stigmatisiert, von den „Normalen“getrennt. In Ravensburg, wie in anderen Städten vom Mittelalter bis in die Moderne, nicht nur Juden. Mal waren es Hexen (mit dem Verweis auf die „Hexenwahn“-Ausstellung im Humpis-Museum), Sinti und Roma (die „Zigeuner aus dem Ummenwinkel“), derer mit dem Mahnmal an St. Jodok gedacht wird. Oder das „unwerte Leben“der Behinderten in der Weißenau, die Freund in diesem Kontext erwähnt.
Sozialdemokraten, Kommunisten im Gemeinderat der Stadt, die in ein KZ eingewiesen wurden, gehören ebenfalls in diesen breiten Begriff von Ausgesonderten. Besonders makaber wird die historische Aufteilung von Menschen in Raster von „Unreinen“, wenn Christoph Hund – und da begreift man den Ernst seiner ironischen Vorstellung zu Beginn – wenn er am jüdischen Kaufhaus Merkur die „Halb- und Viertel-Juden“der Nazis erwähnt.
Erhellend auch, dass er die Stadtführung zu jüdischen Spuren im Spital beginnt, das vordergründig nichts mit der Judenverfolgung in Ravensburg zu tun hat. Und doch ist dieser historische Ort in Freunds Verständnis menschlicher Barbarei gegen andere Menschen aufschlussreich. Das Spital war ein Ort früher kommunaler Sorge und Pflege von Armen und Bedürftigen. Mit der Reformation wurde es zu einem Ort der Toleranz, denn auch Evangelische wurden im vorher rein katholischen Spital aufgenommen. Und doch hatte christliche Toleranz ihre Grenzen: Juden war das Spital im Mittelalter nicht zugänglich. Und heute erinnert eine Plakette an jene, deren Menschsein mit Zwangssterilisationen ausgemerzt wurde. ANZEIGE