Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
„Straftäter sind unsere zukünftigen Nachbarn“
Der evangelische Pfarrer Jochen Pfrommer über die Seelsorge für Menschen in Haft
AULENDORF - Jochen Pfrommer ist evangelischer Pfarrer in der Justizvollzugsanstalt in Ravensburg. Am kommenden Donnerstag wird der 57-Jährige als Gesprächspartner beim evangelischen Oberschwabentag dabei sein und über die seelsorgerische Begleitung von Menschen berichten, die in Haft sind. Paulina Stumm hat den Gefängnispfarrer vorab in seinem Büro in der JVA besucht.
Herr Pfrommer, sie arbeiten an einem Ort, an dem Menschen leben, die Schuld auf sich geladen haben. Warum machen sie das? Es ist Auftrag der Kirche, sich Menschen am Rande der Gesellschaft zuzuwenden und für sie in Extremsituationen da zu sein. Ich erlebe hier einen Spiegel der Gesellschaft, oder besser gesagt, ich bin mit der Speerspitze ihrer negativen Auswirkungen konfrontiert: Verarmung, Vereinsamung, misslungene Integration, Sucht. Es ist eine sehr vielfältige Arbeit, wir haben hier 40 verschiedene Nationen aus ganz unterschiedlichen Bevölkerungsschichten.
Wollen die Gefangenen ihren Beistand überhaupt? Ja, ich und mein katholischer Kollege haben täglich Anfragen. Unser großes Plus ist, dass wir dem Beicht- geheimnis unterliegen: Was mir in den Gesprächen anvertraut wird, bleibt bei mir. Entsprechend kann ein Raum des Vertrauens entstehen, in dem der Einzelne sich öffnen und darüber sprechen kann, was ihn belastet.
Worüber sprechen sie miteinander? Wir sprechen über Schwierigkeiten mit Mitgefangenen oder mit dem System Strafvollzug. Oft sind auch die Tat selbst, der Umgang damit und Reue ein Thema. Es gibt Täter und es gibt Opfer, aber diese Grenze verläuft oft auch in der Person selbst. Viele bringen Belastendes und Unaufgearbeitet in der eigenen Biografie mit und sind selbst einmal Opfer geworden in ihrem Leben.
Wissen Sie immer, was derjenige verbrochen hat, mit dem sie ein Gespräch führen? Ich handhabe es in der Regel so, dass ich unbefangen auf die Menschen zugehe und mir mein eigenes Bild mache. Das hält mich davon ab, einen Gefangenen auf die Straftat zu reduzieren. Manche sprechen es von selbst an. Vor allem die Untersuchungshaft ist schwierig, wenn der Schock der Inhaftierung verarbeitet werden muss, draußen alles zusammenbricht und unklar ist, wie die Justiz urteilen wird. Welche Rolle spielt der Glaube in den Gesprächen mit den Gefangenen? Das ist nicht bei allen Thema. Aber manche entdecken ihren Glauben als Anker hier wieder. Es ist schon so, dass viele Gefangene sich selbst in Frage stellen. Sie bereuen und fragen sich, wozu sie fähig waren. Auch Suizidgedanken kommen vor. Die Frage nach dem Sinn und Wert des eigenen Lebens ist eine zutiefst religiöse. Das Wissen, dass sie die Menschenwürde vor Gott nicht verwirken können und in der Vergebung die Chance auf einen Neuanfang liegt, ermöglicht den Blick nach vorne.
Nehmen Sie die Geschichten der Gefangenen mit zu sich nach hause? Es gibt schon Dinge, die wirken in mir nach, und da muss ich dann für einen Ausgleich sorgen. Es ist aber mein christliches Selbstverständnis, dass ich von der Rechtfertigung des Gottlosen, des Sünders predige. Von daher habe ich ein Menschenbild, das nicht nur edel und gut ist, sondern das den Menschen an sich auch als jemanden begreift, der zu Dingen fähig ist, die ihm selbst und anderen schaden. In der Öffentlichkeit ist das Böse vorhanden, bis Lena Odenthals (Tatort-Kommissarin, Anmerkung der Redaktion) Handschellen klicken und der Straftäter hinter Gefängnismauern verschwindet. Sie werden erst wieder sichtbar, wenn sie nach der Haft wieder rauskommen. Haft ist nicht dazu da, die Menschen wegzuschließen, sondern sie zu resozialisieren. Die Straftäter sind unsere zukünftigen Nachbarn, hoffentlich ist es dann hier drin gut gelaufen.