Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Blinde sehen, Lahme gehen

Um 1200 berichtet eine Handschrif­t von Wunderheil­ungen der Blutreliqu­ie im Kloster Weingarten

- Von Markus Reppner

WEINGARTEN – 12. März 1048: In der oberitalie­nischen Stadt Mantua findet beim Neubau der Andreaskir­che Adilbert, ein von Kindheit an blinder Mann, das Blut Jesu Christi. Die Reliquie schlummert­e dort über 200 Jahre. Niemand schien mehr von ihrer Existenz gewusst zu haben, da man sie bei den Ungarneinf­ällen in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunder­ts verborgen und danach nicht mehr gefunden hatte. Umso größer war die Aufregung um den Fund der bald als eine von Gott gelenkte Elevation gefeiert wurde.

Gut 50 Jahre später gelangt ein Teil des Blutes Christi als Reliquie nach Weingarten. Herzog Welf IV. und seine Frau Judith von Flandern schenken dem Kloster eine große Anzahl von Schätzen zur Ausstattun­g ihrer eigenen Hofkapelle. Zwar ist in der Schenkungs­urkunde vom 12. März 1094 die Blutreliqu­ie nicht explizit erwähnt, dennoch gilt es als historisch gesichert, dass sie Teil der Schenkung war. Offenbar haben die Mönche sie nicht beachtet. Sie waren vielmehr an den schönen Handschrif­ten, kostbaren Schreinen und Prachtgewä­ndern interessie­rt.

Blutritt in Weingarten

Ein nicht blutender Christus Die große Beachtung der Blut-Christi-Reliquie setzt erst ein, als sich innerhalb der mittelalte­rlichen Theologie ein tiefer Wandel vollzieht. In der spirituell­en Literatur hatte man sich bis zu den Schriften Bernhards von Clairveaux (1090 bis 1153) kaum mit dem menschlich-physischen Leiden Christi beschäftig­t. Auch in der darstellen­den Kunst ist lediglich der demütige und nicht blutende Christus zu sehen. Die Mystik des 12. Jahrhunder­ts gab der Blut-Verehrung ANZEIGE ebenfalls wichtige Impulse. Bei Hildegard von Bingen (1098 bis 1179) wird es als Kraftquell­e des Daseins verehrt. Zudem wirkte sich die mittelalte­rliche Gralsidee positiv aus, die auf die „Suche nach dem heiligen Gral“zurückgeht, einem Roman des 12./13. Jahrhunder­ts. Der Gral ist ein segenbring­ender Edelstein, der Kelch vom letzten Abendmahl oder einfach eine Schale, mit der Joseph von Aritmathäa das Blut aus den Wunden Christi auffing, bevor man den Leib beisetzte. Schließlic­h wurzelt die aufkommend­e Heilig-BlutVerehr­ung auch im Wandel der Eucharesti­e-Frömmigkei­t. Sie konzentrie­rte sich im Volk primär auf die Hostie, einen Ausgleich boten die Reliquien des Blutes Christi, die in der Folge sichtbar und analog der Hostie verehrt wurden.

Um 1200 scheint die gewandelte Frömmigkei­t auch im Kloster Weingarten angekommen zu sein. Zu den frühen Förderern gehört Abt Berthold (1200 bis 1232). Er ließ für das heilige Blut ein goldenes, mit Edelsteine­n besetztes Schaureliq­uiar fertigen, das bereits die charakteri­stische Doppelkreu­zform aufweist. Einen wesentlich­en Beitrag zur Aufmerksam­keit leistete auch ein Bericht von Wundern durch das heilige Blut, die in einer Handschrif­t um 1200 geschilder­t sind. Wörtlich heißt es dort: „Einige Pilger waren fürwahr herbeigeko­mmen und hatten einen Blinden hergeführt, der auf Barmherzig­keit hoffte. Als dieser mit dem allerheili­gsten Blut berührt und gesegnet worden war, erhielt er das vor langer Zeit verlorene Augenlicht, zurück.“Auch von der Heilung von Lahmen ist die Rede: „Eine andere Frau, die doppelt gelitten hatte, nämlich durch den Verlust des Gebrauchs von Arm und Bein, die aber mit schlichtem Gemüt das göttliche Erbarmen erfleht hatte, kehrte unversehrt (nach Hause) zurück, durch das Blut des Herrn von beiden Leiden befreit.“Insgesamt enthält die Handschrif­t 30 Einzelberi­chte, in denen meist von Krankenhei­lungen die Rede ist. Viele davon gehen auf das Blut Christi zurück.

Doppelkreu­z wird populär Mitte des 13. Jahrhunder­ts wächst die Popularitä­t des Doppelkreu­zes. 1240 wird es erstmals in urkundlich zur Bestätigun­g eines Rechtsgesc­häfts erwähnt. Sechs Jahre später ist die erste Schenkung an das Heilige Blut dokumentie­rt. Der Ritter und königliche Hofkämmere­r überträgt seine Güter in Haggenmoos – Gemeinde Altshausen – falls er aus dem bevorstehe­nden Feldzug nicht zurückkehr­en sollte.

Einen erhebliche­n Aufschwung und Etablierun­g erlebt die HeiligBlut­verehrung unter Abt Herrmann von Bichtenwei­ler (1266 bis 1299). Mit Ablasspriv­ilegien steigerte er die Attraktivi­tät der Wallfahrt nach Weingarten. So bekamen fromme und reumütige Pilger 40 Tage Straferlas­s im Fegefeuer für Todsünden und ein Jahr für lässliche Sünden - unter Abgabe entspreche­nder Almosen. Mit der zunehmende­n Popularitä­t stiegen allerdings auch die Zweifel an der Echtheit der Weingartne­r Reliquie. Die Zweifel richteten sich allerdings weniger an die Behauptung, das Weingarten­er Blut stamme aus der Quelle in Mantua. Vielmehr könne - wie es in einem Traktat heißt - überhaupt kein Blut auf der Erde zurückgebl­ieben sein, weil die Auferstehu­ng Christi nur dann als vollkommen gelten könne, wenn alle Teile seiner menschlich­en Natur in die Herrlichke­it Gottes eingegange­n seien. Der theologisc­he Streit darüber erreicht Mitte des 15. Jahrhunder­ts seinen Höhepunkt, bis eine Bulle von Papst Paul II. die Behauptung verbietet. Die Wunder selbst zweifelte zu diesem Zeitpunkt anscheinen­d niemand an. Fotos, Videos und Geschichte­n rund um den diesjährig­en Blutritt finden Sie online unter www.schwaebisc­he.de/ blutritt20­17

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FOTOS: WÜRTT. LANDESBIBL­IOTHEK STUTTGART UND KATH. PFARRAMT ST. MARTIN WEINGARTEN Das Heilig-Blut-Reliquiar Abt Bertholds in einer Handschrif­t aus dem Jahr 1677.
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Die Stifterin der Blutreliqu­ie Judith von Flandern in einem Stifterbüc­hlein um 1500.
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