Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Traurig, aber stark
So viele Kinder und Jugendliche unter den Opfern – Nach dem Anschlag rücken die Bürger Manchesters zusammen
MANCHESTER/LONDON - Flatterband versperrt am Morgen den Ort des Grauens. „Da sind noch Leichen drin. Hier kommt keiner rein“, sagt eine freundliche Polizistin in blauer Uniform – und deutet mit dem Kopf auf die Arena hinter ihr. Im Foyer der Halle hat sich abends zuvor, nach einem Popkonzert des Teenie-Idols Ariana Grande, Schreckliches abgespielt. Ein Attentäter zündete eine Bombe und riss mindestens 22 Menschen mit in den Tod. Fast 60 weitere Menschen werden verletzt, manche lebensgefährlich, darunter viele Fans im Teenageralter.
Viele Einwohner der 500 000-Einwohner-Stadt im Norden Englands sind am Morgen noch fassungslos. „Ich konnte es nicht glauben. Meine Tochter geht oft in die Arena. Meine Frau war erst am Freitag da“, sagt ein Mann mit rötlichem Bart, einen Becher Kaffee in der Hand. „Ich kann es nicht verstehen“, fügt er hinzu, schüttelt den Kopf und steigt in sein Taxi.
Die Halle, die etwas versteckt hinter dem Victoria-Bahnhof liegt, ist weiträumig abgesperrt. Der Eingang ist kaum zu sehen. Das graue Gebäude ist riesig – und doch irgendwie unscheinbar, wie seine Form an diesem trüben Morgen in den grauen Himmel übergeht.
Nur schnell raus Der 20-jährige Connor Bain und seine 17-jährige Schwester Rachel gehen mit ihren Reisetaschen über die Brücke nahe der Halle Richtung Innenstadt. Sie waren dabei, als die Bombe explodierte. Sie haben im mittleren Bereich gesessen – mit gutem Blick auf die Bühne, erzählen sie. Alle hätten nur schnell raus gewollt. Binnen Minuten seien Polizei und Krankenwagen da gewesen. „Alles ging ganz schnell“, sagt Rachel.
Die Geschwister waren für das Konzert extra aus dem schottischen Glasgow angereist. Eigentlich wollten sie jetzt vom Victoria-Bahnhof wieder zurückfahren. Doch der bleibt vorerst abgesperrt.
Um den Ort des Geschehens huschen Journalisten und Kameramänner. Einige sitzen mit Laptops und Notizblöcken auf einer niedrigen Mauer. Die Stimmung ist gedrückt. Viel zu sehen gibt es ohnehin nicht. Kein Blick in das Foyer, wo die Bombe losgegangen sein soll.
Das Konzert der 23-jährigen USPopsängerin vor ausverkauftem Haus (21 000 Plätze) war gegen 22.30 Uhr gerade zu Ende, als ein gewaltiger Knall die fröhliche Atmosphäre zerreißt. „Das ganze Gebäude erzitterte“, berichtet später Joanne Johnson der BBC. „Irgendwie wusste man gleich: Das war kein Lautsprecher-Kurzschluss.“
Der Eindruck bestätigt sich auf schreckliche Weise. Offenbar, so legen es die ersten Ermittlungen nahe, war es einem einzelnen Attentäter gelungen, unbehindert in die öffentliche Zone zwischen der Halle selbst und dem angrenzenden Bahnhof Manchester Victoria zu gelangen. Genau zu dem Zeitpunkt, als ihm Hunderte Konzertbesucher entgegenströmen, zündete der Täter seine selbstgebaute Bombe und riss in seiner Umgebung die Menschen mit in den Tod. Die Bombe des Attentäters muss, den schrecklichen Verletzungen der Opfer nach zu schließen, aus Nägeln und anderen Metallteilen bestanden haben.
Weinende Teenager Der Schock sitzt Daisy Liu (24) noch in den Knochen. Sie arbeitet für ein kulturelles Austauschprojekt mit China und wohnt im Neubaugebiet des Green Quarter, dem Grünen Viertel, wie viele andere junge Leute. Von ihrer Wohnung aus konnte sie die Explosion hören. „Es hörte sich ein bisschen an wie Donner“, sagt sie. „Und es roch wie Feuerwerk.“Rausgehen wollte sie aber nicht. Man wisse ja nie, ob es gefährlich sei, erklärt die junge Frau. Draußen seien jede Menge Leute gewesen. Und viele Teenager, die weinten.
Beim Bombenanschlag waren auch Pep Guardiolas Ehefrau Cristina Serra und die zwei Töchter Valeria und María in der Konzerthalle, blieben aber unverletzt. Alle drei seien entkommen, jedoch tief geschockt von dem blutigen Attentat nach dem Konzert des Teenie-Idols, berichtete die spanische Zeitung „Marca“. Der Ex-Bayern-Coach Guardiola, der seit dem vergangenen Jahr in der britischen Premier League den Traditionsclub Manchester City trainiert, schrieb auf Twitter: „Geschockt. Ich kann nicht glauben, was letzte Nacht passiert ist.“Er sende den Familien und Freunden der Opfer seine tiefe Anteilnahme, so der 46-jährige Spanier.
Dass viele der Opfer Kinder und Jugendliche sind, verdeutlichen schon die ersten Namen der Toten. Georgina, 18, stand kurz vor den Abschlussprüfungen in der Kollegstufe. Das Foto, das die Familie an die Medien gibt, zeigt das vergnügte Mädchen bei einem früheren Treffen im Arm ihres Idols Grande. Ihren Verletzungen erlegen sind auch ein achtjähriges Mädchen und ein junger Mann, 26 Jahre alt.
Wie sehr die Attacke auf die Jugend des Landes die Briten aufwühlt, lassen die Reaktionen aus Politik und Sicherheitsbehörden ahnen. Die Regierungschefin spricht von einer „neuen Kategorie der Feigheit“und „kaltem Kalkül“, mit dem es der Täter auf besonders Verletztliche abgesehen hatte. Auch die sonst eher kühlen Ermittler des Inlandsgeheimdienstes MI5 verwenden emotionale Sprache: Man sei „empört und angewidert“über den Bombenangriff, gibt MI5-Boss Andrew Parker zu Protokoll.
Stadt mit Gemeinschaftssinn „Ich stelle mir nur vor: Was, wenn meine Tochter dabei gewesen wäre?“, sagt Natalie Lowe (48), die gerade auf dem Weg zur Arbeit ist. „Business as usual“gebe es heute sicher nicht. Das Ereignis werde nachwirken. Aber Manchester habe einen guten Gemeinschaftssinn. Die Stadt werde das schaffen. Das war auch 1996 so, nach einem verheerenden Bombenanschlag der Terrorgruppe IRA. Damals waren große Teile der Innenstadt abgesperrt und mussten wieder hergerichtet werden.
Die große Solidarität der „Mancunians“, wie die Einwohner der Stadt heißen, war auch in der Nacht zu sehen. Nach dem Unglück boten viele über den Hashtag #roominmanchester spontan Unterkünfte für Opfer an. Viele der Konzertbesucher wohnten auch im Park-Inn-Hotel direkt gegenüber der Arena. „Wir tun alles, was wir können, um unsere Gäste und Bürger zu unterstützen, die von dieser Tragödie betroffen sind“, sagt Hotelmanager Ludwig Duweke.
Am Abend versammeln sich die Menschen auf dem Albert Square vor dem Rathaus zu einer Mahnwache. Es gehe jetzt darum, sagt der anglikanische Bischof David Walker, „dass wir uns nicht von Terroristen das Leben bestimmen lassen“. Für den britischen Muslimenrat spricht Harun Khan die Hoffnung aus, die Täter möge „in diesem und im nächsten Leben die volle Härte des Gerichts treffen“. Manchesters neuer Bürgermeister Andrew Burnham appelliert an die Bürger: „Wir trauern heute, aber wir sind stark.“