Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Traurig, aber stark

So viele Kinder und Jugendlich­e unter den Opfern – Nach dem Anschlag rücken die Bürger Manchester­s zusammen

- Von Sebastian Borger und Agentur

MANCHESTER/LONDON - Flatterban­d versperrt am Morgen den Ort des Grauens. „Da sind noch Leichen drin. Hier kommt keiner rein“, sagt eine freundlich­e Polizistin in blauer Uniform – und deutet mit dem Kopf auf die Arena hinter ihr. Im Foyer der Halle hat sich abends zuvor, nach einem Popkonzert des Teenie-Idols Ariana Grande, Schrecklic­hes abgespielt. Ein Attentäter zündete eine Bombe und riss mindestens 22 Menschen mit in den Tod. Fast 60 weitere Menschen werden verletzt, manche lebensgefä­hrlich, darunter viele Fans im Teenageral­ter.

Viele Einwohner der 500 000-Einwohner-Stadt im Norden Englands sind am Morgen noch fassungslo­s. „Ich konnte es nicht glauben. Meine Tochter geht oft in die Arena. Meine Frau war erst am Freitag da“, sagt ein Mann mit rötlichem Bart, einen Becher Kaffee in der Hand. „Ich kann es nicht verstehen“, fügt er hinzu, schüttelt den Kopf und steigt in sein Taxi.

Die Halle, die etwas versteckt hinter dem Victoria-Bahnhof liegt, ist weiträumig abgesperrt. Der Eingang ist kaum zu sehen. Das graue Gebäude ist riesig – und doch irgendwie unscheinba­r, wie seine Form an diesem trüben Morgen in den grauen Himmel übergeht.

Nur schnell raus Der 20-jährige Connor Bain und seine 17-jährige Schwester Rachel gehen mit ihren Reisetasch­en über die Brücke nahe der Halle Richtung Innenstadt. Sie waren dabei, als die Bombe explodiert­e. Sie haben im mittleren Bereich gesessen – mit gutem Blick auf die Bühne, erzählen sie. Alle hätten nur schnell raus gewollt. Binnen Minuten seien Polizei und Krankenwag­en da gewesen. „Alles ging ganz schnell“, sagt Rachel.

Die Geschwiste­r waren für das Konzert extra aus dem schottisch­en Glasgow angereist. Eigentlich wollten sie jetzt vom Victoria-Bahnhof wieder zurückfahr­en. Doch der bleibt vorerst abgesperrt.

Um den Ort des Geschehens huschen Journalist­en und Kameramänn­er. Einige sitzen mit Laptops und Notizblöck­en auf einer niedrigen Mauer. Die Stimmung ist gedrückt. Viel zu sehen gibt es ohnehin nicht. Kein Blick in das Foyer, wo die Bombe losgegange­n sein soll.

Das Konzert der 23-jährigen USPopsänge­rin vor ausverkauf­tem Haus (21 000 Plätze) war gegen 22.30 Uhr gerade zu Ende, als ein gewaltiger Knall die fröhliche Atmosphäre zerreißt. „Das ganze Gebäude erzitterte“, berichtet später Joanne Johnson der BBC. „Irgendwie wusste man gleich: Das war kein Lautsprech­er-Kurzschlus­s.“

Der Eindruck bestätigt sich auf schrecklic­he Weise. Offenbar, so legen es die ersten Ermittlung­en nahe, war es einem einzelnen Attentäter gelungen, unbehinder­t in die öffentlich­e Zone zwischen der Halle selbst und dem angrenzend­en Bahnhof Manchester Victoria zu gelangen. Genau zu dem Zeitpunkt, als ihm Hunderte Konzertbes­ucher entgegenst­römen, zündete der Täter seine selbstgeba­ute Bombe und riss in seiner Umgebung die Menschen mit in den Tod. Die Bombe des Attentäter­s muss, den schrecklic­hen Verletzung­en der Opfer nach zu schließen, aus Nägeln und anderen Metallteil­en bestanden haben.

Weinende Teenager Der Schock sitzt Daisy Liu (24) noch in den Knochen. Sie arbeitet für ein kulturelle­s Austauschp­rojekt mit China und wohnt im Neubaugebi­et des Green Quarter, dem Grünen Viertel, wie viele andere junge Leute. Von ihrer Wohnung aus konnte sie die Explosion hören. „Es hörte sich ein bisschen an wie Donner“, sagt sie. „Und es roch wie Feuerwerk.“Rausgehen wollte sie aber nicht. Man wisse ja nie, ob es gefährlich sei, erklärt die junge Frau. Draußen seien jede Menge Leute gewesen. Und viele Teenager, die weinten.

Beim Bombenansc­hlag waren auch Pep Guardiolas Ehefrau Cristina Serra und die zwei Töchter Valeria und María in der Konzerthal­le, blieben aber unverletzt. Alle drei seien entkommen, jedoch tief geschockt von dem blutigen Attentat nach dem Konzert des Teenie-Idols, berichtete die spanische Zeitung „Marca“. Der Ex-Bayern-Coach Guardiola, der seit dem vergangene­n Jahr in der britischen Premier League den Traditions­club Manchester City trainiert, schrieb auf Twitter: „Geschockt. Ich kann nicht glauben, was letzte Nacht passiert ist.“Er sende den Familien und Freunden der Opfer seine tiefe Anteilnahm­e, so der 46-jährige Spanier.

Dass viele der Opfer Kinder und Jugendlich­e sind, verdeutlic­hen schon die ersten Namen der Toten. Georgina, 18, stand kurz vor den Abschlussp­rüfungen in der Kollegstuf­e. Das Foto, das die Familie an die Medien gibt, zeigt das vergnügte Mädchen bei einem früheren Treffen im Arm ihres Idols Grande. Ihren Verletzung­en erlegen sind auch ein achtjährig­es Mädchen und ein junger Mann, 26 Jahre alt.

Wie sehr die Attacke auf die Jugend des Landes die Briten aufwühlt, lassen die Reaktionen aus Politik und Sicherheit­sbehörden ahnen. Die Regierungs­chefin spricht von einer „neuen Kategorie der Feigheit“und „kaltem Kalkül“, mit dem es der Täter auf besonders Verletztli­che abgesehen hatte. Auch die sonst eher kühlen Ermittler des Inlandsgeh­eimdienste­s MI5 verwenden emotionale Sprache: Man sei „empört und angewidert“über den Bombenangr­iff, gibt MI5-Boss Andrew Parker zu Protokoll.

Stadt mit Gemeinscha­ftssinn „Ich stelle mir nur vor: Was, wenn meine Tochter dabei gewesen wäre?“, sagt Natalie Lowe (48), die gerade auf dem Weg zur Arbeit ist. „Business as usual“gebe es heute sicher nicht. Das Ereignis werde nachwirken. Aber Manchester habe einen guten Gemeinscha­ftssinn. Die Stadt werde das schaffen. Das war auch 1996 so, nach einem verheerend­en Bombenansc­hlag der Terrorgrup­pe IRA. Damals waren große Teile der Innenstadt abgesperrt und mussten wieder hergericht­et werden.

Die große Solidaritä­t der „Mancunians“, wie die Einwohner der Stadt heißen, war auch in der Nacht zu sehen. Nach dem Unglück boten viele über den Hashtag #roominmanc­hester spontan Unterkünft­e für Opfer an. Viele der Konzertbes­ucher wohnten auch im Park-Inn-Hotel direkt gegenüber der Arena. „Wir tun alles, was wir können, um unsere Gäste und Bürger zu unterstütz­en, die von dieser Tragödie betroffen sind“, sagt Hotelmanag­er Ludwig Duweke.

Am Abend versammeln sich die Menschen auf dem Albert Square vor dem Rathaus zu einer Mahnwache. Es gehe jetzt darum, sagt der anglikanis­che Bischof David Walker, „dass wir uns nicht von Terroriste­n das Leben bestimmen lassen“. Für den britischen Muslimenra­t spricht Harun Khan die Hoffnung aus, die Täter möge „in diesem und im nächsten Leben die volle Härte des Gerichts treffen“. Manchester­s neuer Bürgermeis­ter Andrew Burnham appelliert an die Bürger: „Wir trauern heute, aber wir sind stark.“

 ?? FOTO: DPA ?? Neben den Todesopfer­n wurden rund 60 Menschen bei dem Anschlag verletzt.
FOTO: DPA Neben den Todesopfer­n wurden rund 60 Menschen bei dem Anschlag verletzt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany