Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
May beschwört Zusammenhalt der Briten
Nach dem Anschlag in Manchester sind viele Fragen offen – Wahlkampf in Großbritannien unterbrochen
LONDON - Kurz nach elf Uhr am Dienstag tritt Theresa May vor die Downing Street 10. Die Ringe unter den Augen der Premierministerin verraten, dass sie in der Nacht wenig Ruhe gefunden hat. May spricht von den „schrecklichen Ereignissen in Manchester“, verurteilt die TerrorAttacke, die mit kaltem Kalkül auf junge Leute abgezielt habe. Ehe sie in die nordenglische Stadt aufbricht, beschwört die Regierungschefin die Widerstandsfähigkeit der Briten: „Unser Lebensstil wird sich durchsetzen.“
Bereits am frühen Morgen hatte sich die konservative Parteichefin mit Labour-Oppositionschef Jeremy Corbyn abgesprochen: Der Wahlkampf für die Unterhauswahl vom 8. Juni wird bis auf Weiteres unterbrochen. In so einer Situation müsse man zusammenstehen, sagt Corbyn nach Mays Erklärung: „Wir verurteilen den Anschlag auf das Schärfste.“Die Vorsitzenden der kleineren Parteien ziehen mit eigenen Erklärungen nach.
Wunden nicht verheilt Was den Briten besonders wehtut: Die Wunden vom Terroranschlag vor zwei Monaten sind noch nicht vernarbt. Verwelkte Blumen liegen nahe des Londoner Parlaments. Ein Attentäter steuerte im März ein Auto absichtlich auf der Westminster-Brücke in Fußgänger und erstach dann einen Polizisten. Weitere vier Menschen starben vor Ort. Der Täter war zuvor als gewaltbereiter Extremist aufgefallen und zum Islam konvertiert.
Davor hatten das Königreich gut zwölf Jahre lang Ruhe. Ein schwerer Anschlag erschütterte das Vereinigte Königreich im Juli 2005 Damals zündeten vier Muslime mit britischem Pass in der U-Bahn und in einem Bus Sprengsätze. 56 Menschen starben, etwa 700 wurden verletzt. Seitdem haben die Geheimdienste viele Terrorpläne durchkreuzt. Mit der Operation „Kratos“sollten nach den Anschlägen von 2005 potenzielle Selbstmordattentäter ausgeschaltet werden – versehentlich wurde jedoch ein unbescholtener Brasilianer erschossen. Mitverantwortlich war damals Cressida Dick, die kürzlich ernannte, erste Polizeichefin von Scotland Yard.
Nach dem Attentat am Parlament vor zwei Monaten hatte die Polizei ihre Präsenz erhöht. Es wurden noch mehr Sperren für Fahrzeuge errichtet, Hubschrauber kreisten im Parlamentsviertel. Die Geheimdienste melden regelmäßig stolz die Festnahmen von Terrorverdächtigen. In Sachen Videoüberwachung ist Großbritannien ohnehin bestens gerüstet. Kein Wunder also, dass der Kampf gegen den Terrorismus im Wahlkampf derzeit keine große Rolle spielt. Das Vereinigte Königreich hatte zuletzt andere Sorgen.
Viele Fragen offen Wenige Stunden nach dem Anschlag hat May eine Krisensitzung einberufen. Viele Fragen müssen noch geklärt werden, zum Beispiel ob der Täter in Manchester einem Netzwerk angehörte. May hielt dies ausdrücklich für möglich. Sie ließ die höchste Terrorwarnstufe im Land ausrufen. Auch zeitliche Zusammenhänge müssen überprüft werden. So fand der jüngste Anschlag am vierten Jahrestag der Ermordung des britischen Soldaten Lee Rigby in London statt. Er wurde 2013 vor seiner Kaserne mit einem Auto angefahren und mit Messern und einem Fleischerbeil getötet. Die Täter wollten Rache nehmen für Muslime, die angeblich von der britischen Armee getötet worden sind.
Der Attentäter habe versucht, die Gesellschaft zu spalten, sagt Manchesters Bürgermeister Andrew Burnham: „Stattdessen haben viele Menschen ihre Hilfsbereitschaft bewiesen. Das war die bestmögliche Reaktion – der Geist einer großartigen Stadt.“Wie man auf Zerstörungswut von Terroristen reagiert, hat die Metropole schon früher eindrucksvoll bewiesen. 1996 zerstörte eine IRABombe das Einkaufszentrum Arndale. Dessen rascher Wiederaufbau symbolisierte die Renaissance der Stadt. Auch diesmal gehe es darum, sagt die örtliche Labour-Abgeordnete Lucy Powell, „die Wut, die wir alle empfinden, umzuwandeln in etwas Positives“.