Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Harte Jungs in Cannes

Valeska Grisebachs Film „Western“sorgt für Aufsehen

- Von Rüdiger Suchsland

CANNES - Nicole Kidman ist zurück! Mit gleich drei neuen Filmen ist der Megastar der Neunziger und frühen Nuller-Jahre nun triumphal auf den Roten Teppich von Cannes zurückgeke­hrt. Im Wettbewerb­sfilm „The Killing of a Sacred Deer“vom griechisch­en Regie-Wunderkind Yorgios Lanthimos spielt sie eine Arztgattin. Gemeinsam mit ihrem Mann, einem Herzchirur­gen (Colin Farrel), wird sie von einem jungen Mann heimgesuch­t, der den Tod seines Vaters rächen will, für den er dessen Arzt verantwort­lich macht. In unerklärli­cher Weise werden beide Kinder gelähmt und der junge Mann eröffnet dem Vater: Ein Mitglied der Familie müsse sterben, und er selbst müsse wählen, welches.

Wer in antiker Mythologie bewandert ist, wird die Geschichte des Agamemnon und seiner Tochter Iphigenie erkennen. „The Killing of a Sacred Deer“(Die Tötung eines heiligen Hirsches) ist großartige­r Arthouse-Horror. Lanthimos entfaltet über die Versuche des Vaters, dem Schicksal auszuweich­en und einen Ausweg zu finden, einen Diskurs über Spiel und Regeln, Rationalit­ät und Irrational­ität.

Auch bei Michael Haneke gilt das Prinzip: Die Wahrheit liegt im Auge des Betrachter­s. „Happy End“ist eine schwarze Komödie über eine bürgerlich­e Familie. Jean Louis Trintignan­t spielt einen 84-jährigen Patriarch, der mit Tochter (Isabelle Huppert), Sohn (Mathieu Kassowitz), deren Kindern und Personal in einer prachtvoll­en Stadtvilla lebt. Jetzt zieht auch noch Eve mit ein, die Tochter aus Thomas’ erster Ehe. Der Ort Calais ist in diesem Zusammenha­ng natürlich auch nicht zufällig gewählt. So macht Haneke Migration und Flüchtling­sfragen zu Kulissen. In formaler Brillanz, mit ruhigen, spannungsv­ollen Tableaus und beherrscht von einem sarkastisc­hen Unterton, in dem Haneke nach wie vor unübertrof­fen bleibt, erlebt man eine filmische Familienau­fstellung, die auch die Aufstellun­g einer saturierte­n Gesellscha­ft ist.

Viele Filme in Cannes rücken die Abgründe der westlichen Mittelstan­dsgesellsc­haft ins Zentrum. Echte Kritik an den Verhältnis­sen, eine Schärfe, mit der die latente Verachtung zur expliziten wird, fehlt den Filmen aber. Ebenso eine Utopie. Die Filmemache­r sind komplett dem verhaftet, was sie kritisiere­n.

Ganz anders die Berlinerin Valeska Grisebach, deren Film „Western“in der Nebenreihe „Un Certain Regard“läuft. Sie zeigt eine Männerwelt: Harte Jungs, deutsche Arbeiter in Bulgarien auf Montage, tätowierte und verschwitz­te Muskelpake­te. Wer hätte gedacht, dass ausgerechn­et ein Film mit solchen Hauptfigur­en sich als der überrasche­ndste und bislang beste Film entpuppt? Natürlich kommen in „Western“Pferde vor, Waffen, Pokerspiel und Saufen im Saloon, und Eingeboren­e, allerdings keine Apachen, sondern Bulgaren. Der Ostblock ist schon lange das, was Mexiko für die USA ist: eine bundesdeut­sche Front, und so handelt der Film nicht nur von Männerritu­alen und von Deutschen ohne Heimweh, sondern auch von einer deutschen Landnahme. Und von der Illusion der Annäherung.

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FOTO: DPA Mit Laiendarst­ellern hat die deutsche Regisseuri­n Valeska Grisebach den Film „Western“gedreht.

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