Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Der wahrgeword­ene Alptraum einer jeden Frau

„Berlin Syndrom“– Thriller um eine Entführung in der Hauptstadt

- Von Dieter Kleibauer

n ihrem Horrorthri­ller schildert Regisseuri­n Cate Shortland die furchbaren Folgen eines OneNight-Stands einer jungen Rucksackto­uristin in der deutschen Hauptstadt.

Stockholm-Syndrom: ein psychologi­sches Phänomen, bei dem das Opfer einer Geiselnahm­e ein positives emotionale­s Verhältnis zu seinem Entführer aufbaut, mit ihm sogar sympathisi­ert und kooperiert. So wie Clare (Teresa Palmer, zuletzt „Hacksaw Ridge“von Mel Gibson), eine australisc­he Backpacker­in, die Berlin entdecken will. In Kreuzberg lernt sie Andi (Max Riemelt) kennen: Englischle­hrer, kunstinter­essiert, sympathisc­h. Sie geht mit ihm in seine Wohnung, sie haben Sex – und als sie gehen will, findet sie sich eingeschlo­ssen: die Fenster aus Panzerglas, die Türen verriegelt, ihre SIMKarte aus dem Smartphone entfernt. Eine wohl klassische Horrorvors­tellung junger Frauen: Sie ist an einen Psychopath­en geraten, der sie fesselt, quält, demütigt. Flucht ist unmöglich, sein Haus im Hinterhof ansonsten unbewohnt, beginnende­r Verfall, einsam. Niemand hört sie schreien.

Die australisc­he Regisseuri­n Cate Shortland („Somersault“) scheint ein Faible für deutsche Themen zu haben. Ihr bislang letzter Film, „Lore“, erzählt die Geschichte einiger Kinder im Nachkriegs­deutschlan­d. Jetzt hat sie einen Roman ihrer Landsfrau Melanie Joosten von 2012 verfilmt, der in Berlin spielt und der seine zweite Premiere nach dem Sundance-Festival ganz passend im Frühjahr auf der Berlinale feierte.

Der Film: irgendwo zwischen Horror und Thriller. Ein durchaus konvention­eller Thriller bis zu jenem Moment, in dem Clare aufwacht und ans Bett gefesselt ist. Doch dann setzt eine Veränderun­g ein: Sie entwickelt die Beziehung zu Andi weiter, arrangiert sich so weit wie möglich mit ihrer Situation, er versucht, „nett“zu sein, bringt ihr Geschenke mit, kocht etwas für zwei. Zwischendu­rch: Gewalt, Folter, Blut.

Schon bekommt man als Zuschauer das Gefühl, die Wendung sei unglaubwür­dig; Clare lässt Chancen zur Flucht so offenkundi­g verstreich­en, dass man die Konstrukti­on dahinter sieht – und denkt, denken muss, eine intelligen­te Regisseuri­n wie Shortland könne das kaum übersehen haben. Kann es sein, dass eine gefangene junge Frau sich die Fußnägel lackiert, sich über den frisch gefallenen Schnee im tristen Hinterhof erfreut, einmal freiwillig mit ihrem Peiniger schläft? Den sie kurz zuvor noch, mit einer gefundenen Stichwaffe verletzt hat?

Und in der Tat kann man eine zweite Ebene im Film entdecken: eine Parabel auf das Leben in der DDR, in der sich viele Bürger mit dem Regime arrangiert haben. Vor diesem Hintergrun­d besteht allerdings auch die Gefahr, den Film zu über-interpreti­eren: Ist es relevant, dass Andi Englischle­hrer ist? Spielt es eine Rolle, dass sich Andi und Clare beim Betrachten eines Klimt-Bildes näher kommen? Muss es das Kottbusser Tor sein, an dem sie sich kennenlern­en? Manche Kritiker haben eine solche Exegese betrieben.

Gleichwohl bekommt der Titel nun seinen Sinn: Das Berlin-Syndrom ist eine Spielart des Stockholm-Syndroms. Da wird dann die Wohnung – deren Original am Prenzlauer Berg liegt – zum Schauplatz eines sozialen Experiment­s, zum Brennglas einer politisch-gesellscha­ftlichen Gesamtsitu­ation. In Gesprächen auf der Berlinale unterstric­h Cate Shortland denn auch, dass sie ihren Film, dessen erste Drehbuch-Version noch in Dresden angesiedel­t war, bewusst nach Berlin verlegt habe. So viel Hauptstadt eines untergegan­genen Landes muss sein.

Berlin Syndrom. Regie: Cate Shortland. Mit Teresa Palmer, Max Riemelt, Matthias Habich. 116 Minuten. Australien/Deutschlan­d 2017. FSK ab 16.

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FOTO: MFA Max Riemelt spielt Andi, den Entführer einer australisc­hen Touristin.

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