Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

„Positiv ist, wenn Leid und Schmerz verbindet, anstatt zu trennen“

Die Mutter einer an Bulimie erkrankten Tochter über eine schlimme Zeit, an der sie trotzdem wachsen konnte

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RAVENSBURG (dg) - Essgestört­e Menschen leiden an einer erkrankten Seele, die Ursachen können vielfältig sein. Nicht selten liegen die Gründe in familiären Konflikten oder Traumata. Dennoch sind die Eltern auch selber Opfer, leiden sie doch mit ihrem Kind, sorgen sich um seine Gesundheit und verzweifel­n an Selbstvorw­ürfen. Die Mutter der an Bulimie erkrankten Julia, deren Krankheits­verlauf oben beschriebe­n wird, gab der „Schwäbisch­en Zeitung“Einblicke in ihr Leben.

Können Sie sich erinnern, wann Sie die Bulimie ihrer Tochter zum ersten Mal bemerkt haben? Ich habe Veränderun­gen im Wesen meiner Tochter bemerkt und schob es auf die beginnende Pubertät. Dass ständig alle Vorräte weg waren, schrieb ich zunächst meiner eigenen Schusselig­keit zu. Mir ist zwar aufgefalle­n, wie schnell und viel sie auf einmal aß, brachte das aber nicht mit einer Essstörung in Verbindung. Wie auch, Essstörung­en waren damals, vor knapp zwanzig Jahren, noch kein Thema.

Welche Situation ist Ihnen am meisten im Gedächtnis geblieben? Der Tag, an dem ich in ihrem Zimmer einen Eimer mit Erbrochene­m fand. Diese Kotzeimer täglich und überall, sogar im Kleidersch­rank. Ich fühlte Entsetzen, Ekel und Wut. Ich hatte keine Ahnung von dem Begriff Bulimie und dessen Bedeutung. Ich habe die Eimer geleert, sauber gemacht, weil sie stanken und mir Gedanken gemacht, was das soll. Ich wollte mit Julia reden, sie sollte mir erklären, warum sie das tut. Aber sie wollte nicht.

Was fühlen Sie, wenn Sie an diese Zeit denken? Die Schuldgefü­hle und keine Ahnung, was das überhaupt bedeutete. Immer wieder diese Hilflosigk­eit der Krankheit gegenüber. Alles war noch neu, auch für die Ärzte und Therapeute­n. Ich habe zwar öfters mit unserem Hausarzt darüber gesprochen und fühlte mich dennoch alleine gelassen. Es war eine schlimme und traurige Zeit – für sie und mich. Kein Fortschrit­t, immer nur Gegenwehr. Dann kam mein seelischer Absturz und ich wurde auch von unserem Hausarzt in eine psychosoma­tische Klinik eingewiese­n. Meine Tochter in der einen und ich in einer anderen Klinik. Zwischendu­rch mal Mutterund-Tochter-Gespräche mit dem Therapeute­n, die aber nichts brachten, weil sie beim Therapeute­n keinen Ton sagte.

Was denken Sie, war der Auslöser, der Grund für die Essstörung? Durch den frühen Tod meines Mannes und meine Depression­en ist die Lebensfreu­de, das offene, gesellige Haus, die glückliche Ehefrau und Mutter verschwund­en. Die tiefe Traurigkei­t in mir war wohl ansteckend. Ich habe mich sehr bemüht, gut zu funktionie­ren, aber wohl nicht gut genug. Alle meine Liebe und Fürsorge galt meiner Tochter. Vermutlich zu viel des Guten. Sie hat meine traurige Seele wohl bemerkt. Ich kann nur vermuten, dass hier der Auslöser für die Bulimie steckt.

Wie wirkte sich das Essverhalt­en Ihrer Tochter auf Ihren eigenen Alltag aus? Das Geld, auf eine kleine Witwenrent­e und das Kindergeld geschrumpf­t, spielte eine große Rolle. Ich musste sparen. Einkaufen und wegschließ­en. Denn alles, selbst liebevoll gekochtes Essen, landete im Klo. Das machte mich schon wütend. Die Eimer waren zwar weg, aber jetzt musste ich eben die Klos sauber machen. Arbeiten gehen und Geld verdienen, die Tochter im Haus alleine lassen, traute ich mir nicht zu. In der Zeit nach dem ersten Klinikaufe­nthalt gab es eine kurze, gute Zeit. Sie versprach sich zu bemühen, wenn ich sie aus der Klinik hole. Sie war sehr friedlich und auch das Essverhalt­en schien sich gebessert zu haben. Aber bald hatte die Sucht sie wieder im Griff und es ging von vorne los.

Wie hat die Bulimie Ihr eigenes Leben verändert? Es hat meine Jahre, die ich seit der Bulimie meiner Tochter miterlebt habe, sehr geprägt. Immer in Sorge um sie und ihre Gesundheit und vor allem die Auswirkung­en auf ihre Persönlich­keit, ihre dadurch chaotische Welt, ihr Hin und Her und ihre Zerrissenh­eit. Tag und Nacht hat es mich belastet und ich konnte nicht loslassen und helfen. Es hat mich in meinem Leben blockiert.

Haben Sie sich geschämt? Ja, Witwe, eine süchtige Tochter, ohne Partner. Da schämt man sich, weil man versagt hat.

Haben Sie es irgendwann akzeptiert? Als gegeben angenommen? Akzeptiere­n muss man es, ändern kann man es leider nicht. Der oder die Kranke muss es selber bekämpfen. Angenommen habe ich es, nicht weil ich es will, sondern weil ich es muss.

Verletzt Sie die Bulimie persönlich? Sie hat mich persönlich verletzt. Es waren meine Gefühle, meine Sorge und Hilfsberei­tschaft, die nicht angenommen worden sind. Auch die Angriffe auf mich haben mich sehr verletzt und traurig gemacht. Heute sieht die Sache anders aus. Julia und ich haben den Weg zueinander gefunden, trotz Bulimie, und dafür bin ich sehr dankbar.

Sehen Sie auch irgendetwa­s Positives an dem Ganzen? Ja, unsere Beziehung ist sehr tief geworden. Wahrschein­lich weil wir um das Leiden voneinande­r wissen und das uns zusätzlich verbindet. Es ist viel Zeit vergangen. Ich bin alt geworden und meine Tochter erwachsen, da sieht man die Dinge anders. Positiv ist, wenn Leid und Schmerz verbindet, anstatt zu trennen, der Mensch daran wächst, toleranter und achtsamer wird.

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