Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Theresa May greift an
Mit scharfen Angriffen auf ihren Labour-Herausforderer hat die britische Premierministerin Theresa May am Dienstag versucht, ihre schlingernde Wahlkampagne wieder auf Siegeskurs zu bringen. Jeremy Corbyn wäre der schwache Leiter einer schwachen Regierung, die vom Ausland nicht ernst genommen werden würde, prophezeite die Konservative: „Im Brüsseler Verhandlungssaal wäre er allein und nackt.“Hingegen habe sie einen Plan für die Brexit-Verhandlungen und die Stärke, britische Positionen im Ausland durchzusetzen, „weil ich an das Vereinigte Königreich glaube“, sagte May.
Die Regierungschefin, 60, hatte ihren Wunsch nach vorgezogenen Neuwahlen Mitte April mit der Behauptung begründet, die anderen Parteien würden ihren harten BrexitKurs boykottieren. Für erfolgreiche Verhandlungen brauche sie ein starkes Mandat. Kurioserweise wurde im Wahlkampf bislang aber über alles Mögliche diskutiert, nur nicht über die Zukunft Grossbritanniens ausserhalb der EU.
Kritik an Konservativen
Steuern, Einwanderung, das Gesundheitswesen, zuletzt auch die Pflege für die ständig älter werdende Bevölkerung – auf vielen wichtigen Politikfeldern mussten sich die Konservativen gegen den Vorwurf verteidigen, ihre Politik der vergangenen sieben Jahre habe die Situation nicht verbessert, sondern verschlechtert. Die Lösungsvorschläge für die kommende Legislaturperiode stießen auf erheblichen Widerspruch.
Besonders galt dies für eine im Land der Häuslebesitzer beinahe revolutionär anmutende Idee: Immobilienbesitz sollte zukünftig bei der Berechnung von Pflegekosten berücksichtigt werden. Weil sich dagegen massiver Widerstand formierte – Opposition, aber auch traditionell Tory-nahe Zeitungen sprachen von einer „Demenzsteuer“– zog May den Programmpunkt zurück. Ihre als „stark und stabil“gepriesene Führung stellte sich als wacklig und wankelmütig heraus.
In der ersten und wahrscheinlich auch einzigen Live-Begegnung mit einem Moderator und Publikum der Sender Channel Four und Sky News musste sich die gebeutelte Regierungschefin am Montagabend immer wieder Zwischenrufe und Hohngelächter gefallen lassen. Hingegen behandelte das gleiche Publikum zuvor den 68-jährigen Corbyn höflich. Einer direkten Konfrontation mit dem Labour-Chef hatte sich May verweigert. Sie folgte damit einer 30 Jahre zurückreichenden Tradition, die nur der damalige LabourPremier Gordon Brown 2010 durchbrochen hatte.
Corbyn kritisierte die Premierministerin für ihre „Megafon-Diplomatie“. In den EU-Verhandlungen gehe es aber um einen ernsten, respektvollen Umgang zum beiderseitigen Wohl. Hingegen tadelte May in ihrer Rede die EU-Kommission für deren „aggressive“Haltung und betonte, sie werde „notfalls den Verhandlungstisch verlassen: Gar keine Vereinbarung ist besser als eine schlechte.“
Das Tory-Wahlprogramm legt das Land auf den harten Brexit samt Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion fest. Sollten die auf zwei Jahre angelegten Verhandlungen, die am 19. Juni beginnen, nicht zum Erfolg führen, sagen britische Wirtschaftsverbände
katastrophale Folgen für die Insel voraus.
In der TV-Debatte sahen Corbyn wie May von persönlichen Angriffen auf den Gegner ab. Dass die Premierministerin tags darauf zur rhetorischen Keule griff, dürfte auf das Konto ihres Chefberaters Lynton Crosby gehen. Der Australier hat in seiner Heimat dem konservativen Ex-Premier John Howard mehrfach mit negativen Kampagnen die Wiederwahl gesichert, 2016 war er für die unterschwellig rassistische, letztlich erfolglose Kampagne gegen den später zum Londoner Bürgermeister gewählten Sadiq Khan verantwortlich.
Im Durchschnitt der Umfragen lagen die Konservativen (44 Prozent) zuletzt nur noch acht Punkte vor Labour (36), der Vorsprung hat sich damit seit Mitte April mehr als halbiert. Der Zuwachs für die alte Arbeiterpartei um neun Punkte binnen sechs Wochen ist spektakulär, im britischen Mehrheitswahlrecht aber nur bedingt hilfreich: Da alle Stimmen des jeweils unterlegenden Wahlkreis-Bewerbers unter den Tisch fallen, können die Konservativen noch immer mit einer soliden absoluten Mehrheit der Sitze rechnen.
Zudem genießt Labour deutlich mehr Unterstützung bei Jungwählern als bei Rentnern; erfahrungsgemäß bemühen sich am Wahltag aber erheblich mehr Ältere zu den Urnen als Jüngere.