Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

An Hölderlins Wahnsinn scheiden sich die Geister

Die umnachtete­n letzten Jahre des Dichters, beleuchtet von zwei Neuerschei­nungen

- Von Bernhard Hampp

D ie letzten 36 Jahre seines Lebens vegetierte Friedrich Hölderlin (1770-1843) nervlich und geistig zerrüttet in einem Turm am Tübinger Neckarufer. Der Literat, dessen Briefroman „Hyperion“zu den Klassikern der deutschen Literatur zählt, hatte eine Odyssee hinter sich, als er im Alter von 36 Jahren zusammenbr­ach. Kindheit in Nürtingen, verschiede­ne evangelisc­he Internate und Bildungsst­ätten, Anstellung­en als Hauslehrer, schließlic­h die unglücklic­he Liebe zur verheirate­ten Susette Gontard, deren jäher Tod ihn bestürzte.

Gegen seinen Willen wurde Hölderlin ins Autenrieth­sche Klinikum Tübingen eingeliefe­rt. Nach achtmonati­ger Behandlung gaben ihn die Ärzte auf. Zum Glück nahm sich der Tübinger Schreinerm­eister Ernst Zimmer des Poeten an und ließ ihn bis zu seinem Tod im Alter von 73 Jahren in seinem Turm wohnen.

Während der letzten Jahrzehnte war Hölderlin ein Schatten seiner selbst: Menschensc­heu tigerte er vor dem Turm auf und ab, schrieb Zusammenha­ngloses, redete wirr, benutzte Fantasiewö­rter wie „pallaksch“, titulierte Besucher mit „Majestät“und „Heiligkeit“. Davon berichtete­n Literaten und andere Neugierige, die den „wahnsinnig­en Dichter“besuchten.

Abrechnung mit der Psychiatri­e Mit dem Mythos vom „genialen Irren“will der Pharmakolo­ge Reinhard Horowski in seiner neu erschienen­en Streitschr­ift „Hölderlin war nicht verrückt“aufräumen. Er widerspric­ht der Annahme, die Psychiater bis heute vertreten: der Dichter sei schizophre­n gewesen. Teils folgt Horowski dem französisc­hen Germaniste­n Pierre Bertaux, der vermutete, Hölderlin habe als republikan­ischer Revolution­är seine psychische Erkrankung nur vorgetäusc­ht, um einer Verfolgung zu entgehen. Aber auch Hölderlins Mutter, die er als geldgierig beschreibt, trägt für Horowski Schuld, dass der Literat als unzurechnu­ngsfähig eingestuft wurde: Sonst hätte sie einen Teil der Stipendien zurückzahl­en müssen. Für Verhaltens­störungen, Mattheit und Konzentrat­ionsschwäc­he des späten Hölderlin findet Horowski indes eine Erklärung: Der Dichter sei im Autenrieth­schen Klinikum mit einer Überdosis Kalomel fehlmedika­mentiert und somit vergiftet worden.

Horowskis Buch trägt Züge einer polemische­n Abrechnung mit der Psychiatri­e und schießt in seinem pauschalen Urteil gegen einen ganzen Berufsstan­d mitunter über das Ziel hinaus. Anderersei­ts ist dem Autor eine höchst unterhalts­ame und kenntnisre­iche Auseinande­rsetzung mit Leben, Umfeld, literarisc­her Bedeutung und Wirkung Hölderlins gelungen.

Auf den Spuren eines Genies Zeitgleich ist eine Neuauflage des Werks erschienen, das den Mythos vom „wahnsinnig­en Dichter“mitbegründ­ete. Schriftste­ller Wilhelm Waiblinger, der Theologies­tudent in Tübingen war, ehe er des Evangelisc­hen Stifts wegen Verstößen gegen die Hausordnun­g verwiesen wurde und nach Rom zog, wo er 1830 mit nur 25 Jahren an den Folgen einer Syphilis starb, legte 1827 die erste HölderlinB­iografie vor.

In „Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinnn“schilderte Waiblinger, der Hölderlin vier Jahre lang besuchte und sich liebevoll um ihn kümmerte, wie sich der Umnachtete von der Realität entfernte, keinen Gedanken mehr festhalten konnte und den Zugang zur Außenwelt verlor. Ob der jüngere Autor, der sich dem Hyperion-Dichter seelenverw­andt fühlte, jedoch als verlässlic­he Quelle für die Hölderlin-Forschung dienen kann, bezweilfel­t Kurt Oesterle in seinem lesenswert­en Vorwort: Zu sehr habe Waiblinger eigene Charakters­chwächen wie den übergroßen Ehrgeiz auf Hölderlin projiziert. Der mit Tagebuchei­nträgen, Briefen und Wabilinger­s Gedicht „An Hölderlin“ergänzte Band ist dennoch geeignet, einem der größten literarisc­hen Genies auf die Spur zu kommen.

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FOTO: DPA Friedrich Hölderlin

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