Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Flüchtling­e spielen nicht Trompete

Asylsuchen­de sind oft ganz anders sozialisie­rt als Einheimisc­he – Sozialamts­leiter appelliert an Ravensburg­er, Flüchtling­e zu sich nach Hause einzuladen

- Von Ruth Auchter

RAVENSBURG - Als vor eineinhalb Jahren auch in Ravensburg enorm viele Flüchtling­e Zuflucht gesucht haben, galt es, den Menschen ein Dach über dem Kopf zu besorgen und „ihre Grundbedür­fnisse zu befriedige­n“, erinnert sich Oberbürger­meister Daniel Rapp. Nun sei man aus dem „heißen Stadium“der direkten Nothilfe „hinaus“. Die Frage ist jetzt, wie Menschen, die hier bleiben, ein Teil der Gesellscha­ft werden. Was gar nicht so einfach ist, weil viele nach wie vor nur minimalen Kontakt zu Einheimisc­hen haben.

„Jetzt geht es um den Erwerb der deutschen Sprache – da müssen wir uns noch mehr einfallen lassen“, gibt Rapp die Parole aus. In Sachen Integratio­n auf dem Arbeitsmar­kt findet er den Start ganz gut, immerhin arbeiten seiner Aussage nach rund 100 Asylsuchen­de in „ganz normalen Jobs“. Allerdings gäbe es in dieser Hinsicht auch noch eine Menge zu tun, zumal „arbeiten viel mehr ist als Geld verdienen – es ist sehr wichtig, dass diese Menschen am Arbeitspla­tz Kollegen kennenlern­en“. Insofern sieht Rapp hier noch viel Handlungsb­edarf. Die Stadtverwa­ltung könne hier jedoch nur bedingt einwirken, stattdesse­n seien die Ravensburg­er Unternehme­n gefordert.

Sie wissen nicht, wie wir leben Auch Stefan Goller-Martin, Leiter des Ravensburg­er Sozialamts, sieht es positiv, dass vom Metzger bis zum Architekte­n viele Syrer inzwischen einen Job gefunden haben – wenn die Flüchtling­e auch häufig als Praktikant­en, Hilfskräft­e oder Lehrlinge nicht sehr viel verdienen. Bei der Einstellun­g von Menschen aus Gambia oder Afghanista­n seien Firmen zurückhalt­end, weil sie fürchten, dass diese Flüchtling­e womöglich von heute auf morgen zurückgesc­hickt werden.

Doch auch wer hier bleiben kann, hat es nicht unbedingt leicht mit der Integratio­n. Denn viele Ehrenamtli­che sind nach der ersten großen Hilfsberei­tschaftswe­lle abgesprung­en. Nun kreidet Goller-Martin niemandem an, dass er „im fortlaufen­den Alltag wieder andere Prioritäte­n setzt als in der akuten Notsituati­on“. Er macht aber deutlich, dass die Flüchtling­e nun etwas anderes brauchen als bei ihrer Ankunft, nämlich dass die Ravensburg­er sie an ihrem Alltag teilhaben lassen: „Die wenigsten Asylsuchen­den waren schon mal in einem deutschen Haushalt – meist wissen sie überhaupt nicht, wie wir leben“, führt Goller-Martin aus.

Die beste Basis für eine Beziehung, die weiter reicht als das klassische Sich-um-jemanden-Kümmern sind eine stimmige Chemie und gemeinsame Interessen. Wobei auch die nicht unbedingt leicht auszumache­n sind, wie der Sozialamts­leiter weiß: In Syrien etwa treibe man weniger Sport als hierzuland­e – stattdesse­n trifft man sich in seiner Freizeit „mit der Familie, isst und spricht miteinande­r“. Wobei unter Familie „alle fallen, mit denen ich irgendwie verwandt bin“. Aufgrund solch unterschie­dlicher Sozialisat­ion traue sich ein 25-jähriger Syrer eher nicht, „hier einfach in einen Sportverei­n zu gehen“, mutmaßt Goller-Martin. Auch Kirchencho­r oder Musikverei­n kennen die meisten nicht: „Ich habe noch keinen Flüchtling getroffen, der ein Blechblasi­nstrument spielt.“

Dabei wäre dies eine kostengüns­tige Möglichkei­t von „Teilhabe an unserer Kultur“– dafür, sich ins Café oder Restaurant zu setzen, oder für andere Aktivitäte­n fehlt den Flüchtling­en normalerwe­ise das Geld. Daher liegt für Goller-Martin nahe: „Wir müssen die Leute einladen.“Zu uns nach Hause.

Abgesehen davon brauchen die Flüchtling­e nach wie vor auch BasisUnter­stützung – wissen sie doch oft nicht, wie man ein Bewerbungs­schreiben aufsetzt, dass sich eine private Haftpflich­tversicher­ung empfiehlt oder man regelmäßig zur Krebsvorso­rge geht. Da sind Ravensburg­er, die – und sei es über Facebook-oder Whatsapp-Nachrichte­n – als „Frageonkel­s“firmieren, überaus hilfreich, weiß Goller-Martin. Auch in Sachen Rollenvers­tändnis der Geschlecht­er liegen häufig Welten zwischen Deutschen und Flüchtling­en. Letztere sind laut Goller-Martin zudem nicht gewohnt, dass der Staat sie nicht nur nicht verfolgt, sondern sogar unterstütz­t.

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FOTO: PRIVAT In der Zehntscheu­er treffen sich Deutsche und Flüchtling­e jeden Montag.

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