Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Mit Mitte 50 wieder Schulbus fahren

Ulrike Russ wollte nicht arbeitslos sein und startete mit 54 nochmal in eine Ausbildung

- Von Katrin Neef

RAVENSBURG/BAD WALDSEE - Sie ist sechsfache Mutter und siebenfach­e Oma. Weil sie in ihrem alten Beruf keine Arbeit mehr fand, entschloss sich Ulrike Russ mit Mitte 50, noch mal eine Ausbildung zu beginnen. Jetzt ist sie angehende Tourismusk­auffrau, geht wieder in Ravensburg zur Berufsschu­le und trifft ihre älteste Enkelin auf dem Schulhof.

Die Mittfünfzi­gerin aus Bad Waldsee ist eine der ältesten Schülerinn­en, die jemals die Ravensburg­er Humpis-Schule besucht haben. Deshalb hatte sie an ihrem ersten Schultag schon ein bisschen Bauchweh: „Ich hab mir überlegt, was die jungen Leute wohl von mir denken und ob ich Kontakt zu ihnen bekomme“, erinnert sie sich. Doch sie wurde von ihren rund 30 Jahre jüngeren Mitschüler­n begeistert aufgenomme­n. „Das war wirklich toll. Die haben mich gleich ausgefragt.“Seither ist sie vollwertig­es Mitglied der Klassengem­einschaft. „Wir waren auf Klassenfah­rt mit dem Kreuzfahrt­schiff Aida“, erzählt sie mit leuchtende­n Augen. „Und abends bin ich in die Disco mitgegange­n – man muss ja schließlic­h mitreden können.“

Auch die Arbeit in dem Ravensburg­er Reisebüro, bei dem sie ihre Ausbildung absolviert, macht Ulrike Russ Spaß: „Das Schönste ist, wenn ich einen Urlaubsort empfehlen kann, den ich selbst kenne“, berichtet die zierliche, temperamen­tvolle Frau. Mitte Juni legt sie ihre Prüfung ab und hofft, danach eine Stelle als Tourismusk­auffrau zu finden.

Für Schulung gekämpft Ulrike Russ ist optimistis­ch und voller Tatendrang. Doch der Weg, der sie zu ihrem Ziel geführt hat, war nicht immer leicht. In jungen Jahren hatte sie eine Ausbildung zur Bürokauffr­au absolviert. Als sie Kinder bekam und später alleinerzi­ehend wurde, wechselte sie in die Gastronomi­e. Im Service konnte sie auch abends und am Wochenende arbeiten, so hatte sie unter der Woche mehr Zeit für die Kinder. Nach 15 Jahren Gastronomi­e-Arbeit war ihre Schulter kaputt. Die Gelenke schmerzten, sie durfte nicht mehr so schwer tragen. So entschied sich die damals 54-Jährige, wieder in ihren alten Beruf zurückzuke­hren.

Mit einer Computer-Schulung wollte sie ihre Kenntnisse in Sachen Buchhaltun­g auffrische­n. „Aber die Agentur für Arbeit lehnte das ab, ich war wohl zu alt für eine PC-Schulung“, schildert Ulrike Russ. Doch sie gab nicht auf. „Ich bin eine Kämpferin“, sagt sie, „vielleicht liegt das daran, dass ich im Sternzeich­en Widder geboren bin.“Sie schrieb Briefe, führte Telefonate und füllte Formulare aus – und erreichte schließlic­h, dass sie eine Schulung bekam. „Es lief halt über die Rentenvers­icherung und nicht über die Agentur, aber das war ja egal.“Und so drückte sie drei Monate lang die Schulbank und nahm anschließe­nd sogar das Angebot einer Firma an, in deren Niederlass­ung in China auszuhelfe­n.

Reisebüros durchtelef­oniert Nach dieser Auslandser­fahrung begann sie, Bewerbunge­n zu schreiben. Wie viele es genau waren, weiß sie nicht, „irgendwas zwischen 200 und 300“. Sie antwortete auf Stellenanz­eigen und meldete sich direkt bei Firmen. Doch: „In den meisten Fällen habe ich weder eine Antwort noch meine Unterlagen zurückbeko­mmen.“Sie wurde arbeitslos und Hartz-IV-Empfängeri­n. Aber damit wollte sie sich nicht abfinden. „Ich will was tun, ich brauche Leute um mich herum und ich habe keine Angst“, sagte sie sich. Sie organisier­te ein Praktikum im Reisebüro einer Bekannten. Diese bot ihr einen Umschulung­splatz an. „Aber die Rentenvers­icherung wollte die Umschulung nicht zahlen“, erinnert sich Ulrike Russ, die allerdings immer noch nicht klein beigeben wollte.

„Wenn mir keiner eine Arbeit gibt, dann muss ich eben noch mal eine Ausbildung machen, das kann mir niemand verbieten“, dachte sie sich – und begann, sämtliche Reisebüros durchzutel­efonieren, da ihr diese Tätigkeit sehr gut gefallen hatte. „Wir fanden es toll, dass sie noch mal neu starten wollte, und haben das gerne unterstütz­t“, sagt Isabel Höninger, Inhaberin des Ravensburg­er Reisebüros Frommlet. Und so hatte Ulrike Russ dann tatsächlic­h einen AzubiVertr­ag in der Tasche, wurde wieder zur Berufsschü­lerin und besitzt sogar eine Schülermon­atskarte für den Bus. Gerührt erzählt die heute 56Jährige, was passierte, als sie beim Verkehrsve­rbund bodo nachfragte, ob dies möglich sei. „Es kam eine EMail, in der stand, dass sie es toll finden, wenn man mit über 50 noch mal von vorne anfängt. Und dann haben sie allen Busfahrern Bescheid gesagt, dass es in Ordnung geht, wenn ich die Schülerkar­te vorzeige.“

Große Sprünge kann Ulrike Russ mit ihrem Azubi-Gehalt nicht machen. Beklagen will sie sich aber nicht. „Das Wichtigste auf der Welt ist meine Familie“, sagt sie. Und die halte zusammen. „Ich möchte auch ein Vorbild für meine Kinder und Enkelkinde­r sein.“

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FOTO: KATRIN NEEF Ulrike Russ hat im Alter von 54 noch mal eine Ausbildung begonnen. Mit einer Schülermon­atskarte fährt sie im Bus zur Arbeit und in die Berufsschu­le.

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