Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Mit Mitte 50 wieder Schulbus fahren
Ulrike Russ wollte nicht arbeitslos sein und startete mit 54 nochmal in eine Ausbildung
RAVENSBURG/BAD WALDSEE - Sie ist sechsfache Mutter und siebenfache Oma. Weil sie in ihrem alten Beruf keine Arbeit mehr fand, entschloss sich Ulrike Russ mit Mitte 50, noch mal eine Ausbildung zu beginnen. Jetzt ist sie angehende Tourismuskauffrau, geht wieder in Ravensburg zur Berufsschule und trifft ihre älteste Enkelin auf dem Schulhof.
Die Mittfünfzigerin aus Bad Waldsee ist eine der ältesten Schülerinnen, die jemals die Ravensburger Humpis-Schule besucht haben. Deshalb hatte sie an ihrem ersten Schultag schon ein bisschen Bauchweh: „Ich hab mir überlegt, was die jungen Leute wohl von mir denken und ob ich Kontakt zu ihnen bekomme“, erinnert sie sich. Doch sie wurde von ihren rund 30 Jahre jüngeren Mitschülern begeistert aufgenommen. „Das war wirklich toll. Die haben mich gleich ausgefragt.“Seither ist sie vollwertiges Mitglied der Klassengemeinschaft. „Wir waren auf Klassenfahrt mit dem Kreuzfahrtschiff Aida“, erzählt sie mit leuchtenden Augen. „Und abends bin ich in die Disco mitgegangen – man muss ja schließlich mitreden können.“
Auch die Arbeit in dem Ravensburger Reisebüro, bei dem sie ihre Ausbildung absolviert, macht Ulrike Russ Spaß: „Das Schönste ist, wenn ich einen Urlaubsort empfehlen kann, den ich selbst kenne“, berichtet die zierliche, temperamentvolle Frau. Mitte Juni legt sie ihre Prüfung ab und hofft, danach eine Stelle als Tourismuskauffrau zu finden.
Für Schulung gekämpft Ulrike Russ ist optimistisch und voller Tatendrang. Doch der Weg, der sie zu ihrem Ziel geführt hat, war nicht immer leicht. In jungen Jahren hatte sie eine Ausbildung zur Bürokauffrau absolviert. Als sie Kinder bekam und später alleinerziehend wurde, wechselte sie in die Gastronomie. Im Service konnte sie auch abends und am Wochenende arbeiten, so hatte sie unter der Woche mehr Zeit für die Kinder. Nach 15 Jahren Gastronomie-Arbeit war ihre Schulter kaputt. Die Gelenke schmerzten, sie durfte nicht mehr so schwer tragen. So entschied sich die damals 54-Jährige, wieder in ihren alten Beruf zurückzukehren.
Mit einer Computer-Schulung wollte sie ihre Kenntnisse in Sachen Buchhaltung auffrischen. „Aber die Agentur für Arbeit lehnte das ab, ich war wohl zu alt für eine PC-Schulung“, schildert Ulrike Russ. Doch sie gab nicht auf. „Ich bin eine Kämpferin“, sagt sie, „vielleicht liegt das daran, dass ich im Sternzeichen Widder geboren bin.“Sie schrieb Briefe, führte Telefonate und füllte Formulare aus – und erreichte schließlich, dass sie eine Schulung bekam. „Es lief halt über die Rentenversicherung und nicht über die Agentur, aber das war ja egal.“Und so drückte sie drei Monate lang die Schulbank und nahm anschließend sogar das Angebot einer Firma an, in deren Niederlassung in China auszuhelfen.
Reisebüros durchtelefoniert Nach dieser Auslandserfahrung begann sie, Bewerbungen zu schreiben. Wie viele es genau waren, weiß sie nicht, „irgendwas zwischen 200 und 300“. Sie antwortete auf Stellenanzeigen und meldete sich direkt bei Firmen. Doch: „In den meisten Fällen habe ich weder eine Antwort noch meine Unterlagen zurückbekommen.“Sie wurde arbeitslos und Hartz-IV-Empfängerin. Aber damit wollte sie sich nicht abfinden. „Ich will was tun, ich brauche Leute um mich herum und ich habe keine Angst“, sagte sie sich. Sie organisierte ein Praktikum im Reisebüro einer Bekannten. Diese bot ihr einen Umschulungsplatz an. „Aber die Rentenversicherung wollte die Umschulung nicht zahlen“, erinnert sich Ulrike Russ, die allerdings immer noch nicht klein beigeben wollte.
„Wenn mir keiner eine Arbeit gibt, dann muss ich eben noch mal eine Ausbildung machen, das kann mir niemand verbieten“, dachte sie sich – und begann, sämtliche Reisebüros durchzutelefonieren, da ihr diese Tätigkeit sehr gut gefallen hatte. „Wir fanden es toll, dass sie noch mal neu starten wollte, und haben das gerne unterstützt“, sagt Isabel Höninger, Inhaberin des Ravensburger Reisebüros Frommlet. Und so hatte Ulrike Russ dann tatsächlich einen AzubiVertrag in der Tasche, wurde wieder zur Berufsschülerin und besitzt sogar eine Schülermonatskarte für den Bus. Gerührt erzählt die heute 56Jährige, was passierte, als sie beim Verkehrsverbund bodo nachfragte, ob dies möglich sei. „Es kam eine EMail, in der stand, dass sie es toll finden, wenn man mit über 50 noch mal von vorne anfängt. Und dann haben sie allen Busfahrern Bescheid gesagt, dass es in Ordnung geht, wenn ich die Schülerkarte vorzeige.“
Große Sprünge kann Ulrike Russ mit ihrem Azubi-Gehalt nicht machen. Beklagen will sie sich aber nicht. „Das Wichtigste auf der Welt ist meine Familie“, sagt sie. Und die halte zusammen. „Ich möchte auch ein Vorbild für meine Kinder und Enkelkinder sein.“