Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Jeder nach seiner Fasson
Ravensburg als Sonderfall in der Geschichte (1546 bis 1555)
Durch die Rückendeckung des Schmalkaldischen Bundes gestärkt, erfolgte seit April 1546 die Auflösung der „Papstkirche" in der Stadt: altgläubige Geistliche mussten konvertieren oder wurden entlassen, altgläube Riten und Zeremonien wurden abgeschafft, in der Karmeliterkirche (heutige evangelische Stadtkirche) fanden nun lutherische Gottesdienste statt, das Kloster wurde aufgehoben.
Mit der Einführung eines Ravensburger Katechismus und einer Zuchtordnung war das Fundament für eine eigene lutherische Landeskirche in Ravensburg geschaffen. Zur Verankerung der neuen evangelischen Lehre beauftragten Bürgermeister und Rat den evangelischen Prediger Thomas Lindner (genannt Tilianus), einen Katechismus, also ein Handbuch zur Unterweisung in den Grundfragen der neuen evangelischen Lehre zu verfassen. Damit sollte das Bekenntnis zu neuen Glaubenssätzen eingeübt werden. Zum Abschluß der reformatorischen Maßnahmen des Jahres 1546 erließ der Rat der Stadt ganz nach dem Vorbild Zwinglis eine Zuchtordnung, die das politische Gemeinwesen durch Gesetz und Zucht zur Ehre Gottes „verchristlichen" sollte. Die Ordnung enthielt Artikel gegen Schwören, Fluchen, Spielen, Ehebruch und vieles andere mehr. Die Zuchtordnung legte auch die Grundlagen für ein geregeltes fortschrittliches Schulwesen, ein zentrales Anliegen der Reformatoren, dass alle Christen die Bibel selbst lesen konnten. Ravensburg erhielt eine deutsche Knabenschule, eine deutsche Mädchenschule und eine Lateinschule.
Nach den militärischen Erfolgen im Schmalkaldischen Krieg versuchte Kaiser Karl V. seit 1548 die Reformaton in Ravensburg wieder rückgängig zu machen. Als Stadtherr befahl er den Ravensburgern, die katholische Minderheit anzuerkennen und katholische Messen wieder einzuführen. Sein Ärger richtete sich vor allem gegen die Zunfthandwerker, welche die Reformation befördert hatten. Mit einer Verfassungsänderung versuchte er die Zünfte und deren Zunfthäuser aufzulösen und den überwiegend katholischen Patriziern eine Mehrheit im Stadtrat zu ermöglichen.
Nebeneinander der Konfessionen Die Ravensburger setzten sich über die kaiserlichen Verfügungen hinweg, ließen evangelische und katholische Gottesdienste zu und besetzten den Stadtrat gleichmäßig mit katholischen und evangelischen Ravensburgern. 1554 erklärte der Stadtrat die Karmeliterkirche zur Simultankirche der Stadt: Im Langhaus sollten evangelische Gottesdienste, im Chor die Messen der Karmeliter abgehalten werden. Im März 1555 erließ der Stadtrat die bemerkenswerte Ordnung, dass „keiner den andern in Religionssachen … verachten soll“. Damit verpflichtete der Stadtrat die Bürger auf religiöse Neutralität, auf ein Nebeneinander zwischen evangelisch und katholisch. Keine religiöse Minderheit sollte unterdrückt werden. Im Augsburger Religionsfrieden von 1555 entschied sich Ravensburg konsequenterweise mit Augsburg, Biberach und Dinkelsbühl für eine ungewöhnliche Ausnahmeregelung: Gleichberechtigung für evangelisch und katholisch, Minderheitenschutz für die jeweils zahlenmäßig Schwächeren, für eine Vielfalt des religiösen Lebens in der Stadt. Neben den ansonsten rein evangelischen oder rein katholischen Städten wurde Ravensburg zum Sonderfall in der Geschichte.
Die 1555 festgelegte Bikonfessionalität bestimmte bis weit in das 20. Jahrhundert hinein das Leben in Ravensburg.