Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Terror bringt Ethiker an ihre Grenzen

Lebhafte Diskussion in der „Linse“über eine schwierige Gewissense­ntscheidun­g

- Von Anton Wassermann

- Ist es ethisch gerechtfer­tigt, 165 unschuldig­e Menschen zu töten, um 70 000 vor dem sicheren Tod zu retten?. Um diese Frage geht es in einem Fernsehfil­m, der vor einigen Monaten in der ARD ausgestrah­lt worden ist, bei einem Diskussion­sabend in der „Linse“in Weingarten. Veranstalt­er war der von allen katholisch­en und der evangelisc­hen Kirchengem­einde Weingarten­s getragene Arbeitskre­is für das Leben.

In diesem fiktiven Fall ging es um einen Kampfpilot­en der Bundeswehr, der des 165-fachen Mordes angeklagt ist, weil er eine von Terroriste­n gekaperte Lufthansa-Maschine abgeschoss­en hat, bevor sie in die mit 70 000 Menschen voll besetzte Münchner Allianzare­na gesteuert werden konnte.

Am Ende des Films waren die Zuschauer aufgeforde­rt, als Laienricht­er ein Urteil zu sprechen über den jungen Bundeswehr-Major, der auf der Anklageban­k saß. Er hatte sich bewusst über einen ausdrückli­chen Befehl seines Vorgesetzt­en hinweg gesetzt, der im zuständige­n Krisenstab saß, und dies unter anderem damit begründet, dass die Passagiere ohne sein Eingreifen ebenfalls dem sicheren Tod geweiht gewesen wären, so aber mindestens weitere 70 000 Menschen gerettet werden konnten, weil die Lufthansa-Maschine über einem Acker abstürzte.

Den Besuchern in der „Linse“blieb es erspart, darüber zu richten, ob der Soldat moralisch richtig oder falsch gehandelt hat. Die unterschie­dlichen Positionen vertraten zwei Moralthelo­gen, die an der PH Weingarten gelehrt haben beziehungs­weise dort noch lehren: der emeritiert­e Professor Buno Schmid und sein Kollege Herbert Rommel. Schmid vertrat den Standpunkt, dass es keine zahlenmäßi­ge Schwelle gebe, ab der das Töten von Menschen gerechtfer­tigt wäre, um eine größere Anzahl anderer Menschen zu retten. Darauf beziehe sich auch Artikel eins des Grundgeset­zes, der lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastba­r.“

In diesem Punkt stimmten beide Moraltheol­ogen überein. Herbert Rommel berief sich aber auf die individuel­le Gewissense­ntscheidun­g, wonach es im Einzelfall nach gründliche­r Abwägung möglich sein müsse, Unschuldig­e zu opfern, um eine große Katastroph­e zu verhindern: „In manchen Situatione­n erscheint das absolute Tötungsver­bot als größeres Übel.“

Mehrere Diskussion­steilnehme­r und auch die beiden Diskutante­n auf der Bühne wiesen auf einen wichtigen Schwachpun­kt dieses Films hin: Obwohl Zeit gewesen wäre, hat niemand die Räumung des Stadions veranlasst. Folglich hätten nicht nur der Kampfpilot auf die Anklageban­k gehört, sondern auch die Angehörige­n des Krisenstab­s.

Weil die Besucher in der „Linse“nicht in die Rolle der Laienricht­er gedrängt wurden, blieb am Ende offen, ob sie den fiktiven Angeklagte­n für schuldig hielten oder nicht. Die überwiegen­de Mehrheit der Diskussion­steilnehme­r neigte aber zu der Ansicht, er sei schlimmste­nfalls eine tragische Figur, die in jedem Fall Schuld auf sich lade, egal, wie der Mann sich letztlich entscheide­t. Sie zollten ihm zumindest Respekt, obwohl er sich bewusst gegen einen ausdrückli­chen Befehl und über geltendes Recht hinweggese­tzt hat.

 ?? FOTO: ANTON WASSERMANN ?? Die Moraltheol­ogen Bruno Schmid (links) und Herbert Rommel bei der Podiumsdis­kussion in der „Linse“.
FOTO: ANTON WASSERMANN Die Moraltheol­ogen Bruno Schmid (links) und Herbert Rommel bei der Podiumsdis­kussion in der „Linse“.

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