Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Terror bringt Ethiker an ihre Grenzen
Lebhafte Diskussion in der „Linse“über eine schwierige Gewissensentscheidung
- Ist es ethisch gerechtfertigt, 165 unschuldige Menschen zu töten, um 70 000 vor dem sicheren Tod zu retten?. Um diese Frage geht es in einem Fernsehfilm, der vor einigen Monaten in der ARD ausgestrahlt worden ist, bei einem Diskussionsabend in der „Linse“in Weingarten. Veranstalter war der von allen katholischen und der evangelischen Kirchengemeinde Weingartens getragene Arbeitskreis für das Leben.
In diesem fiktiven Fall ging es um einen Kampfpiloten der Bundeswehr, der des 165-fachen Mordes angeklagt ist, weil er eine von Terroristen gekaperte Lufthansa-Maschine abgeschossen hat, bevor sie in die mit 70 000 Menschen voll besetzte Münchner Allianzarena gesteuert werden konnte.
Am Ende des Films waren die Zuschauer aufgefordert, als Laienrichter ein Urteil zu sprechen über den jungen Bundeswehr-Major, der auf der Anklagebank saß. Er hatte sich bewusst über einen ausdrücklichen Befehl seines Vorgesetzten hinweg gesetzt, der im zuständigen Krisenstab saß, und dies unter anderem damit begründet, dass die Passagiere ohne sein Eingreifen ebenfalls dem sicheren Tod geweiht gewesen wären, so aber mindestens weitere 70 000 Menschen gerettet werden konnten, weil die Lufthansa-Maschine über einem Acker abstürzte.
Den Besuchern in der „Linse“blieb es erspart, darüber zu richten, ob der Soldat moralisch richtig oder falsch gehandelt hat. Die unterschiedlichen Positionen vertraten zwei Moralthelogen, die an der PH Weingarten gelehrt haben beziehungsweise dort noch lehren: der emeritierte Professor Buno Schmid und sein Kollege Herbert Rommel. Schmid vertrat den Standpunkt, dass es keine zahlenmäßige Schwelle gebe, ab der das Töten von Menschen gerechtfertigt wäre, um eine größere Anzahl anderer Menschen zu retten. Darauf beziehe sich auch Artikel eins des Grundgesetzes, der lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
In diesem Punkt stimmten beide Moraltheologen überein. Herbert Rommel berief sich aber auf die individuelle Gewissensentscheidung, wonach es im Einzelfall nach gründlicher Abwägung möglich sein müsse, Unschuldige zu opfern, um eine große Katastrophe zu verhindern: „In manchen Situationen erscheint das absolute Tötungsverbot als größeres Übel.“
Mehrere Diskussionsteilnehmer und auch die beiden Diskutanten auf der Bühne wiesen auf einen wichtigen Schwachpunkt dieses Films hin: Obwohl Zeit gewesen wäre, hat niemand die Räumung des Stadions veranlasst. Folglich hätten nicht nur der Kampfpilot auf die Anklagebank gehört, sondern auch die Angehörigen des Krisenstabs.
Weil die Besucher in der „Linse“nicht in die Rolle der Laienrichter gedrängt wurden, blieb am Ende offen, ob sie den fiktiven Angeklagten für schuldig hielten oder nicht. Die überwiegende Mehrheit der Diskussionsteilnehmer neigte aber zu der Ansicht, er sei schlimmstenfalls eine tragische Figur, die in jedem Fall Schuld auf sich lade, egal, wie der Mann sich letztlich entscheidet. Sie zollten ihm zumindest Respekt, obwohl er sich bewusst gegen einen ausdrücklichen Befehl und über geltendes Recht hinweggesetzt hat.