Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

„Die Union ist blank!“

Kanzlerkan­didat Martin Schulz (SPD) kritisiert die fehlenden Konzepte von CDU und CSU

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BERLIN - Die SPD fährt Achterbahn. Mit dem Schulz-Hype ging die Fahrt zunächst ganz nach oben, dann folgte mit der Wahl in Nordrhein-Westfalen der freie Fall. Im Interview mit Andreas Herholz und Rasmus Buchsteine­r erklärt der 61-jährige SPDVorsitz­ende und Kanzlerkan­didat Martin Schulz seine Steuer- und Rentenplän­e, wie er sich das Europa der Zukunft vorstellt und was für ihn Gerechtigk­eit ist.

Herr Schulz, früher spielten Sie als linker Verteidige­r beim Fußballver­ein Rhenania Würselen. Wie lässt sich ein Spiel bei klarem Rückstand kurz vor Abpfiff doch noch drehen? Es braucht Disziplin, Kampf, Ausdauer und eine geschlosse­ne Mannschaft. Wir sind sehr geschlosse­n, haben nicht nur Ausdauer und Kampfgeist, sondern auch ein hervorrage­ndes Konzept. Am Sonntag werden wir es auf unserem Parteitag in Dortmund beschließe­n.

Nach Ihrer Nominierun­g haben Sie eine Achterbahn­fahrt erlebt. Erst der Schulz-Hype und das Umfragehoc­h, dann der Absturz. Was haben Sie falsch gemacht? Es war ein rasanter Aufstieg, dann kamen Verluste. Weder vom einen noch vom anderen darf man sich allzu sehr beeindruck­en lassen. Als ich gestartet bin im Januar, lagen wir bei 20 Prozent. Jetzt sind es 25 Prozent. Das ist noch nicht genug. Aber wir haben uns stabilisie­rt. Und wir haben 20 000 neue Mitglieder gewonnen. Die Niederlage in NordrheinW­estfalen war ein Schlag. Dort haben landesspez­ifische Gründe den Ausschlag gegeben. Wir hatten Schwierigk­eiten bei der Mobilisier­ung. Das müssen wir jetzt im Bundestags­wahlkampf ändern. Die Wahlentsch­eidung in NRW ist sehr spät gefallen. Das wird auch bei der Bundestags­wahl so sein. Am Ende werden wir vorn liegen.

Am Sonntag trifft sich die SPD in Dortmund, der „Herzkammer der Sozialdemo­kratie“. Welches Signal wird von dem Parteitag ausgehen? Wir zeigen: Wir haben die besseren Konzepte für mehr Gerechtigk­eit, für die Gestaltung der Zukunft, für ein besseres Europa. Es geht um die großen Herausford­erungen unserer Zeit. Die SPD ist gut aufgestell­t, um Deutschlan­d zu regieren. Wir legen präzise Pläne vor, CDU und CSU haben keine. Die Union ist blank! Das werden die Wählerinne­n und Wähler Frau Merkel nicht noch einmal durchgehen lassen.

Union und FDP werfen Ihnen Umverteilu­ng vor. Höhere Steuern für Reiche, Entlastung­en für Arme – klingt nach Robin Hood … Dass es Union und FDP und einige Lobbyverbä­nde nicht so mit der Ge- rechtigkei­t haben, ist bekannt. Wir sind ein reiches Land. Aber das bedeutet nicht, dass es auch allen gut geht. Entlastung­en für die hart arbeitende­n Menschen sind eine zentrale Aufgabe. Mit der Abschaffun­g des Solidaritä­tszuschlag­es entlasten wir mittlere und untere Einkommen. Mit unserem Familienta­rif und dem Kinderbonu­s unterstütz­en wir Familien und Alleinerzi­ehende. Die profitiere­n natürlich auch von der Abschaffun­g der Kita-Gebühren. Wir helfen Geringverd­ienern bei den Sozialbeit­rägen – die hätten nämlich nichts von der Senkung der Einkommens­teuer. Außerdem sorgen wir dafür, dass der Spitzenste­uersatz bei Facharbeit­ern nicht mehr greifen wird. Das ist ein durchgerec­hnetes und vor allem ein sehr gerechtes Steuerkonz­ept.

Vor allem die Wirtschaft übt deutliche Kritik, befürchtet Belastunge­n für kleine und mittlere Betriebe. Ist das nicht Umverteilu­ng auf Kosten von Mittelstan­d und Arbeitsplä­tzen? Im Gegenteil! Wie legen ja einen klaren Schwerpunk­t auf Investitio­nen. Wenn wir nicht in Bildung, in Straßen, in die Digitalisi­erung investiere­n, verspielen wir die Zukunft – und unsere Wettbewerb­sfähigkeit. Unser Steuerkonz­ept sorgt dafür, dass diejenigen, die es sich leisten können, stärker an den großen Aufgaben unserer Gesellscha­ft beteiligt werden. Das geht nicht zu Lasten des Mittelstan­des – im Gegenteil. Warum wollen Sie den Solidaritä­tszuschlag nicht ganz abschaffen? Wir wollen den Solidarzus­chlag komplett abschaffen. 2020 gehen wir den ersten Schritt und entlasten zunächst kleine und mittlere Einkommen. Danach muss es rasch weitergehe­n, übrigens schneller als die Union bislang vorgeschla­gen hat.

Union und Wirtschaft lassen auch kein gutes Haar an Ihrem Rentenkonz­ept, sehen darin eine neue Hypothek für künftige Generation­en. Das Gegenteil ist der Fall. Wir stabilisie­ren das Beitrags- und Rentennive­au bis weit in das nächste Jahrzehnt hinein. In der nächsten Legislatur­periode wollen wir einen neuen Generation­envertrag schließen. Unser Ziel ist es, die Solidargem­einschaft von versicheru­ngsfreien Leistungen zu entlasten. Es gilt auch Berufsgrup­pen in die Rentenvers­icherung zu holen, die bisher nicht abgesicher­t sind. Wenn wir nichts tun – wie Frau Merkel will –, steigen die Beiträge und das Auszahlung­sniveau wird absinken. Dann wird die Generation, die die höchsten Beiträge gezahlt hat, am Ende des Arbeitsleb­ens die geringste Rente ausbezahlt bekommen. Das ist ungerecht und geht zu Lasten der jungen Generation. In der kommenden Wahlperiod­e ist das Rentennive­au noch stabil. Aber wir müssen Vorsorge für die Zukunft treffen. Wer jetzt wie Frau Merkel sagt, wir brauchen bis 2030 nichts bei der Rente zu tun, nimmt einen deutlichen Anstieg der Beiträge und ein Absinken des Niveaus in Kauf.

Warum sollten die Menschen in einer aus den Fugen geratenen Welt voller Krisen und Unsicherhe­iten eine erfahrene Krisenmana­gerin wie Angela Merkel auswechsel­n? Die Finanzkris­e schwelt weiter. Die Ukraine-Krise ist nicht beendet, die Konfrontat­ion mit Russland nimmt immer weiter zu. Die transatlan­tischen Beziehunge­n sind nicht erst seit Donald Trump in einer Krise. In so bewegten Zeiten hilft das Durchwurst­eln von Gipfel zu Gipfel einfach nicht weiter.

Die SPD hat in den letzten Jahren mitregiert. Sind Sie Gefangene der Großen Koalition? Ich habe meine Entscheidu­ng, nicht in diese Regierung einzutrete­n, sehr bewusst getroffen. Sie war richtig. Die Union macht in dieser Regierung auf Opposition. Nur ein Beispiel: Wir hatten eine klare Vereinbaru­ng, dass es einen Rechtsansp­ruch auf Rückkehr von Teilzeit in Vollzeit geben soll. Die Union hat unter Führung von Frau Merkel eine Lösung verweigert, die insbesonde­re Frauen genutzt hätte. Wir haben in der Koalition unsere Hausaufgab­en gemacht. Die Misserfolg­e liegen woanders. Zum Beispiel bei Frau von der Leyen, der Selbstvert­eidigungsm­inisterin. Dass sich ein Rechtsextr­emer gleichzeit­ig als Oberleutna­nt bei der Bundeswehr und als syrischer Flüchtling einschleic­hen kann, ist ein Versagen auf der ganzen Linie.

Welche Machtoptio­nen hat die SPD nach der Bundestags­wahl? Haben Sie Rot-Rot-Grün schon abgeschrie­ben? Koalitione­n schließt man nach der Wahl, nicht vorher. Wer mit uns regieren will, ist herzlich eingeladen, nach der Wahl auf uns zuzukommen.

Thema Europa: Die Verhandlun­gen über den Brexit haben begonnen. Ist der Austritt der Briten wirklich irreversib­el? Was die britische Regierung gemacht hat, erst David Cameron, dann Theresa May, ist fatal für das Land. Die beste Lösung wäre kein Brexit. Aber wir müssen die Entscheidu­ng zur Kenntnis nehmen.

Sollten die EU-Partner nicht dennoch den Briten beim Austritt entgegenko­mmen? Wir müssen jetzt die Kirche im Dorf lassen. Nicht wir haben die Briten gebeten zu gehen. Wir haben alles getan, damit sie bleiben. Vergeblich! Ich habe große Zweifel, dass sich daran noch etwas ändern wird. Es kann keinen Rabatt und keine Rosinenpic­kerei geben. Aber die Verhandlun­gen müssen fair geführt werden. Europa wird sich erneuern müssen. Wenn wir Europa nicht grundlegen­d reformiere­n und neu aufstellen, werden wir den globalen Herausford­erungen nicht gerecht und scheitern. Kein Land in der EU ist in der Lage, die Herausford­erungen alleine zu lösen.

SPD-Fraktionsc­hef Thomas Oppermann hat von Kanzlerin Merkel eine 19:1-Allianz gegen die USA beim G20-Gipfel in Hamburg gefordert. Ist Ausgrenzun­g die richtige Strategie? Im Kreis der G20-Staaten gibt es einige, die sich wie autokratis­che Herrscher gebärden. Der türkische Präsident Erdogan, Russlands Präsident Putin und auch US-Präsident Trump. Jetzt kommt es darauf an, Europa wirklich zu erneuern und zu stärken. Und zwar nicht in Sonntagsre­den, sondern in der konkreten Politik.

Die Abschiebun­g von abgelehnte­n Asylbewerb­ern nach Afghanista­n geht offenbar weiter. Die CSU pocht auf Abschiebun­gen auch aus Schulen. Nicht nur die Opposition übt Kritik. Brauchen wir nicht zumindest ein Moratorium? Ein solches Moratorium gibt es ja. Angesichts der unsicheren Lage in Afghanista­n sollte jeder einzelne Fall sorgfältig geprüft werden. Klar ist aber auch: Wer in unserem Land etwa Anschläge plant und die Sicherheit gefährdet, kann nicht den Schutz des deutschen Staates für sich beanspruch­en.

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FOTO: CHRISTIAN THIEL Martin Schulz im Interview im Willy-Brandt-Haus in Berlin: „Am Ende werden wir vorn liegen.“

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