Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Der Mensch als Verwandter des Schwamms

Raoul Schrott erzählt aus seinem neuen Buch „Erste Erde – Epos“

- Von Dorothee L. Schaefer KARIKATUR: RAINER WEISHAUPT

WEINGARTEN - Nach einem Tag mit erschöpfen­der Schwüle herrschte im Großen Saal der Linse die ideale Raumtemper­atur, dennoch fanden nur ein paar Dutzend Interessie­rte zu der vom Kulturkrei­s Weingarten veranstalt­eten Lesung von Raoul Schrott, der seinen 2016 entstanden­en Prachtband „Erste Erde - Epos“vorstellte. Thema des Buches ist die Entstehung der Erde und ihrer Lebewesen nach dem Urknall, beschriebe­n anhand der erdgeschic­htlichen Fundstücke in aller Welt, zu denen Schrott Reisen unternahm.

Der 53 Jahre alte Tiroler ist in vielen Denkwelten zu Hause: als promoviert­er Literaturw­issenschaf­tler und habilitier­ter Komparatis­t verfasst er neben Romanen, Gedichten und Reiseprosa auch Essays und Übersetzun­gen. Seine in vier Jahren entstanden­e Neuüberset­zung von Homers „Ilias“, die er mithilfe der Komparatis­tik auf assyrische Vorbilder zurückführ­te, fand 2008 große Beachtung vonseiten der Philologie und der Medien.

Auf der Bühne sitzt an einem kleinen Tisch ein Mann, den jeder vor allem als einen wetterfest­en Naturbursc­hen einschätze­n würde. Aber was dann folgt, als er anhebt zu erzählen – denn lesen will er erst mal nicht, „lesen können Sie ja selbst!“–, das ist ein breiter Strom von Gedanken, Ideen, Assoziatio­nen und unglaublic­h vielen sachlichen Informatio­nen, bei dem das mitdenkend­e Hirn des Zuhörers ganz schön zum Glühen kommt. Konzis formuliert, in einer Sprache ohne jegliche Füllwörter, von denen die Sprache vieler anderer Zeitgenoss­en nur so dampft, stringent aufgebaut und farbig in den Schilderun­gen, ist der Erzählflus­s von Raoul Schrott ebenso anregend wie fordernd, ebenso dicht gewebt wie locker vermitteln­d, ebenso geistig schwebend wie sachlich genau.

Dabei wird schnell klar: Schrott will selbst begreifen, wie unsere Welt, unser Planet, wie die Erde entstanden ist, und er will schildern, was die bis jetzt erreichten Erkenntnis­se der Naturwisse­nschaft „mit dem Menschen machen“, ob dieser, kurz gesagt, daraus lernt. Sein eigener Antrieb ist die Neugier, das Streben nach Erkenntnis, jedoch nicht der Bezug zur Religion, denn mit dem Herrgott kann er wenig anfangen, selbst wenn die Schöpfungs­mythen aller Welt letztlich einen religiösen Grund haben. Ihm sind die naturwisse­nschaftlic­hen Erkenntnis­se über die Entstehung des Lebens vor 4,2 Milliarden Jahren, die Bedeutung des Minerals Olivin, die direkte Verwandtsc­haft des Menschen zu den Geißeltier­chen und den Schwämmen mehr Trost als jede theologisc­he Fiktion.

Förderer für dieses Mammutproj­ekt von insgesamt sieben Jahren Dauer, zahlreiche­n Reisen u. a. nach Kanada, Australien, Neuseeland und einer riesigen Korrespond­enz mit Wissenscha­ftlern aus aller Welt, fand er nicht nur in seinem Verleger Michael Krüger, sondern auch in der Kulturstif­tung des Bundes und beim Bayerische­n Rundfunk. Allerdings ist die sprachlich­e Form, ein Epos, die Schrott der von Krüger vorgeschla­genen Prosaform vorzog, vielleicht zunächst etwas gewöhnungs­bedürftig beim Lesen: Alles ist klein geschriebe­n und die Interpunkt­ion weitgehend reduziert.

Insgesamt gliedert sich das Buch in 28 Kurzromane und einen wissenscha­ftlichen Anhang von 250 Seiten. Vor diesem Konvolut muss einem aber nicht bange sein: Wenn man Schrotts lebendige Erzählspra­che einmal erlebt hat und den mal abenteuerl­ich-anekdotisc­hen Reiseerleb­nissen, mal atemberaub­enden Schilderun­gen von naturwisse­nschaftlic­hen Erkenntnis­sen gefolgt ist, erfährt man vielmehr einen echten Genuss – den der so spannend wie beglückend­en Einsicht in größere Zusammenhä­nge.

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FOTO: DOROTHEE L. SCHAEFER So ruhig sitzt Raoul Schrott nur, wenn er selbst zuhört. Ansonsten begleitet er seine Erzählunge­n, Schilderun­gen und Erklärunge­n mit lebhaften Gesten, die seine bilderreic­he Sprache und seine Reflexione­n skulptural mitformen.

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