Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Koalition streitet über die „Ehe für alle“
Union fühlt sich vom SPD-Vorstoß zur Abstimmung noch in dieser Woche überrumpelt
BERLIN/STUTTGART - Nach jahrelanger Debatte um gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften könnte es plötzlich ganz schnell gehen mit der sogenannten „Ehe für alle“. Die SPD will noch diese Woche, womöglich am Freitag, im Bundestag darüber abstimmen lassen und sieht gute Chancen für eine Mehrheit im Plenum. Die Union fühlt sich vom Koalitionspartner überrumpelt.
Auslöser für den Koalitionsstreit kurz vor Ende der Legislaturperiode ist eine Aussage von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Bei einer Veranstaltung der Zeitschrift „Brigitte“am Montagabend stellte die CDU-Vorsitzende in Aussicht, die Frage nach der „Ehe für alle“zu einer „Gewissensentscheidung“zu machen. Damit wären Abgeordnete des Bundestags nicht der sogenannten Fraktionsdisziplin unterworfen. Bislang lehnte die Union die „Ehe für alle“mehrheitlich ab und hatte mit der SPD ausgemacht, vor der Bundestagswahl nicht mehr über die Frage abzustimmen. Doch die Sozialdemokraten nutzten Merkels Äußerungen als Steilvorlage – was bei der Union Empörung auslöste. „Das ist ein Vertrauensbruch“, erklärte Fraktionschef Volker Kauder (CDU). Kommt es zu einer Abstimmung, können die Unionsabgeordneten ihre Stimme aber frei abgeben. Merkel sagte in einer Fraktionssitzung am Dienstag nach Angaben von Teilnehmern, es gehe um eine „Gewissensentscheidung“. Dies gilt auch für die CSU.
In Stuttgart äußerte sich auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). „Die Kirche, der ich angehöre, lehnt das ab“, sagte er und berichtete von einem Briefwechsel, den er 2003 als Abgeordneter des Landtags mit Joseph Ratzinger führte. Ratzinger, der später Papst wurde, hatte sich an katholische Politiker gewandt mit der Bitte, gleichgeschlechtliche Ehen gesetzlich nicht zu verankern. „Ich stehe da in Dissidenz zu meiner Kirche“, so Kretschmann. „Es kann nicht Aufgabe eines liberalen Verfassungsstaats sein, Lebensformen abzulehnen, die anderen gar nicht schaden und sie nicht betrifft.“Er unterstützte den Vorschlag, über die „Ehe für alle“ohne Fraktionsdisziplin abstimmen zu lassen.
BERLIN - Am Dienstagnachmittag ist die Nachricht aus der Unionsfraktion gedrungen: Angela Merkel hebt den Fraktionszwang für die Abstimmung über die „Ehe für alle“auf und besiegelt die Kehrtwende. Erzwungen hatte diese SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz am Dienstagmorgen. Die Regierungschefin war davon überrumpelt worden, nachdem sie in einer abendlichen Talkrunde am Montag ihr Einlenken signalisierte – allerdings einen Beschluss erst für die nächste Legislaturperiode angepeilt hatte.
„Die Kanzlerin hat einen Move gemacht. Jetzt nehmen wir sie beim Wort“, erklärte Schulz am Dienstag selbstbewusst vor der Hauptstadtpresse. Schulz hatte die „Ehe für alle“erst am Wochenende beim Bundesparteitag zur Bedingung für eine Koalition gemacht. „Madame, geben Sie Gewissensfreiheit, und zwar jetzt“, wandelte Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) für den Appell ein Zitat aus Schillers „Don Carlos“um.
Noch in dieser Woche werde über die „Ehe für alle“abgestimmt, legte sich Schulz fest. SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann forderte sogar eine namentliche Abstimmung, damit jeder wisse, wer hinter der Ehe für alle stehe, sagte er im ZDF-„heute-journal“. Er rechne mit vielen Gegenstimmen aus der CDU/CSUFraktion, dennoch gilt die Annahme wegen der Zustimmung bei Grünen und Linkspartei als sehr wahrscheinlich.
Der Herausforderer Schulz schien mit seinem Vorstoß den Bruch der Großen Koalition drei Monate vor der Bundestagswahl zu riskieren. Dieser scheint vorerst abgewendet. Merkel hat mit ihrer Kehrtwende aber für großes Rumoren bei der Unionsfraktion gesorgt. Im konservativen Lager ist die Homo-Ehe – und damit verbunden das Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Partner – ein rotes Tuch. „Es geht für uns um das Kindeswohl. Für ein Kind ist es wichtig, Vater und Mutter zu haben als Bezugspersonen in ihrer Verschiedenheit“, sagte Bundestagsvizepräsident Johannes Singhammer (CSU) am Dienstag im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“. Dass Merkel der Auffassung ist, die Haltung zur Ehe für alle sei „eine Gewissensentscheidung“, war in der Unionsspitze bekannt. Fraktionschef Volker Kauder (CDU) sei von den Äußerungen Merkels nicht überrascht gewesen, wie es heißt. CSU-Chef Horst Seehofer hatte sich ähnlich geäußert. Die Verärgerung war groß. Doch gab es auch Zustimmung von den bekennenden Homosexuellen in der CDU. So habe etwa Präsidiumsmitglied Jens Spahn die Abstimmung begrüßt.
„Taktisches Manöver“Ärger gab es auch über den Koalitionspartner SPD. Als Fraktionschef Volker Kauder (CDU) vor der Fraktionssitzung vor die Mikrofone trat, klang er zornig: „Das ist ein Vertrauensbruch“, ließ er seinem Ärger freien Lauf und warf der SPD vor, sie würde ihrer Verantwortung nicht gerecht werden. „Sie hat gezeigt, dass sie der Aufgabe zu regieren nicht gewachsen ist.“Der Zorn richtet sich vor allem gegen Schulz, der noch Ende Mai in einem Interview mit dem Berliner Schwulenmagazin „Siegessäule“erklärt hatte: „CDU und CSU lehnen die Ehe für alle ab, und in einer Koalition kann man keine Politik gegen den Koalitionspartner machen.“
Die Genossen rechtfertigen sich mit Merkels „taktischem Manöver“, wie es Bundesfamilienministern Katarina Barley (SPD) am Dienstag im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“formulierte. „Merkel ging es nur darum, die Braut CDU für neue potenzielle Koalitionspartner hübsch zu machen. So darf man mit diesem Thema, bei dem es um Würde und Respekt geht, nicht umgehen.“