Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
„Wir sind nicht dumm, es sind Hunderte“
In England trauen viele den offiziellen Opferzahlen des Grenfell-Infernos nicht
LONDON - Zwei Wochen lang haben die Fernsehnachrichten jeden Abend den Grenfell Tower gezeigt, aus der Luft, von Norden, von Süden. Keines der Bilder stellt eine ausreichende Vorbereitung dar für den Moment, in dem man um eine Straßenecke in Notting Hill biegt und die ausgebrannte Ruine plötzlich wie aus dem Nichts in den Himmel ragt. Smarte Einfamilienhäuser, gut gepflegte Sozialsiedlungen – und in ihrer Mitte das 24-stöckige Massengrab.
Die am Geländer vor der Methodistenkirche Notting Hill befestigten Blumensträuße lassen nach den heftigen Niederschlägen der vergangenen Tage die Köpfe hängen. Der Regen hat Abkühlung gebracht, aber die Wut der früheren Grenfell-Bewohner und ihrer Nachbarn ist heiß geblieben. „Jeder Teil deines Lebens ist ausgesetzt. Leute, die eine Arbeit haben, können nicht hingehen, weil sie nicht wissen, ob sie am Abend noch im selben Hotel sein werden. Man muss allem hinterherlaufen“, sagte ein Überlebender der BBC. 150 Familien leben noch in Hotels, 65 Familien sind bereits dauerhaft untergebracht. Umgerechnet mehr als 1,42 Millionen Euro Soforthilfe waren bis Mittwoch ausbezahlt, berichtet Premierministerin Theresa May dem Unterhaus.
Kritik gibt es auch an der Suche nach den Opfern. Viele trauen den offiziellen Angaben nicht und halten die Methoden der Polizei für unangemessen. Freiwillige Helfer fordern, Standortdaten von Handys und andere Mittel zur Hilfe zu nehmen. Sie kritisieren, es gebe noch immer keine Liste der Überlebenden, geschweige denn der Menschen, die sich vermutlich in der Nacht des Unglücks im Gebäude aufgehalten haben.
„Wir sind nicht dumm“Die 44-jährige Sarah Colbourne, die in der Nähe des abgebrannten Hochhauses wohnt, erzählte der britischen Nachrichtenagentur PA: „Wir wissen von 20 Menschen, die nicht ans Telefon gehen, keine E-Mails beantworten. Sie sind nicht vermisst, sondern tot. Es gibt Kinder, die nicht zur Schule kommen.“Colbourne glaubt, dass es weitaus mehr Opfer gibt, als die offizielle Zahl nahelegt. „Die Rede ist von 79. Wir sind nicht dumm, es sind Hunderte.“
Auch der Labour-Abgeordnete David Lammy hält die inzwischen auf 80 korrigierte Zahl für „viel, viel zu niedrig“. Warum, so hat der erfahrene Politiker in einer Serie von Tweets gefragt, werde die Öffentlichkeit nicht auf dem Laufenden gehalten über die schwierige Arbeit der Identifizierung? Was ist dran an den Berichten von Augenzeugen, wonach mehrere Dutzend Bewohner sich auf der Flucht vor den Flammen aus den Fenstern ihrer Wohnungen in den Tod stürzten? Haben die Behörden nicht anhand von Mobiltelefondaten, Schülerlisten, Steuer- und Sozialamtsverzeichnissen ein genaues Bild davon, wie viele Menschen in der Brandnacht im Hochhaus waren?
Lammy, dessen Frau mit einem der Opfer des Grenfell-Infernos befreundet war, hat Erfahrung mit den ebenso armseligen wie multikulturellen Ecken Londons. Sein Wahlkreis Tottenham enthält Viertel, die dem armen Zipfel des Wahlkreises Kensington gleichen. Er weiß auch, wie verunsicherte und in die Enge getriebene Menschen reagieren, wenn der Staat ihnen wirklich oder nur scheinbar Informationen verweigert. Im heißen August 2011 brachen in Tottenham die Armutskrawalle aus, die das Land tagelang in Atem hielten. Ähnliches fürchtet der Labour-Mann wieder. Dass die Behörden mauern, „bestärkt den Verdacht des Verschleierung. Und vergrössert das Risiko von Unruhen.“
Notting Hill – einst ein Slum Heute ist Notting Hill weltweit für seinen Karneval im August bekannt, zu allen Jahreszeiten pilgern die Touristen zum Portobello Market. Bis in die 60er-Jahre war der Stadtteil Synonym für städtische Slums wie im 19. Jahrhundert. Zehntausende von Londonern hausten dort unter unwürdigsten Bedingungen mit Außentoiletten, die sich mehrere Familien teilten. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg sollten diese Gebäude abgerissen werden, erst 30 Jahre später kam es nach und nach dazu. „In den 60er- Jahren wurden unter der Ägide der örtlichen Gemeinden beachtliche Lösungen erarbeitet“, heißt es stolz in einer Trottoir-Inschrift vor der örtlichen Methodistenkirche, „die gute, erschwingliche Wohnungen für Generationen sicherstellten“. Der 1974 fertiggestellte Grenfell Tower gehörte dazu.
Gut 40 Jahre später müssen Kirchen, Moscheen und andere Helfer den traumatisierten Opfern der Brandkatastrophe helfen. Deren Ursache dürfte in der Nichteinhaltung bestehender Bauvorschriften liegen. In 37 Bezirken Englands gelten mittlerweile 137 Wohnhochhäuser als brandgefährdet, weil auch dort die Brandbestimmungen nicht eingehalten wurden. Schätzungen zufolge ist die Isolierung an mindestens 600 der weit mehr als 4000 Hochhäuser im Land feuergefährlich. Im Nord-Londoner Bezirk Camden stellten die Experten fassungslos das Fehlen von 1000 zwingend vorgeschriebenen Feuertüren fest, zudem waren Gasleitungen falsch verlegt. Die rund 2000 Bewohner von vier Hochhäusern wurden Hals über Kopf zur Räumung aufgefordert.
Premierministerin Theresa May hat einen Leiter für die offizielle Untersuchung ernannt. Der ehemalige Richter Martin Moore-Bick soll die Ermittlungen führen, wie May dem Parlament am Donnerstag schriftlich mitteilte. MooreBick sei „höchst respektiert und enorm erfahren“.