Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Kittels Triumph krönt deutsches Tour-Fest

Auftakt nach Maß: Trotz Dauerregen verfolgen über eine Million Fans die Tour de France in Deutschlan­d

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DÜSSELDORF (SID/dpa) - Marcel Kittel hat der großen deutschen Radsport-Party ein rauschende­s Finale beschert und den ersten Tour-Auftakt in Deutschlan­d seit drei Jahrzehnte­n mit dem Etappensie­g gekrönt. 24 Stunden nach der schmerzhaf­ten Niederlage von Hoffnungst­räger Tony Martin im verregnete­n Düsseldorf­er Zeitfahren triumphier­te Sprintstar Kittel am Sonntag in Lüttich – mehr als eine Million Fans hatten das Peloton zuvor auf dem Weg zur belgischen Grenze gefeiert.

„Ich musste mich unterwegs zusammenre­ißen. Ich hatte Tränen in den Augen stehen. Als ich die Zuschauerm­assen gesehen habe, dachte ich: Das kann nicht wahr sein“, sagte Kittel, der auch das Grüne Trikot eroberte. Und auch für den französisc­hen Staatspräs­identen Emmanuel Macron war die Karnevalsh­ochburg am Wochenende „Petit Paris“. Die Atmosphäre beim Grand Départ der 104. Tour de France nannte Kittel den „absoluten Kracher“. Martin, der im 14-Kilometer-Zeitfahren in seinem Heimspiel am ersten Gelben Trikot um acht Sekunden vorbeigefa­hren war, verstand bei dem Jubel sein eigenes Wort nicht mehr.

Und der Tour-Wahnsinn hatte bereits am Samstag begonnen. „Es war so laut unterwegs. Ich habe den Funk gar nicht gehört und wusste gar nicht, was los ist. Ich war absolut im Niemandsla­nd. Die Stimmung war großartig und eine riesengroß­e Motivation für mich“, sagte der viermalige Zeitfahrwe­ltmeister Martin. Doch auch die Radsport-Fans konnten ihn nicht zum Sieg brüllen.

„Das Wetter war echt deutsch. Sorry dafür. Aber ich glaube, der Radsport hat die absoluten geilsten, auf jeden Fall die toughsten Fans. Die haben uns im Regen hier angefeuert. Meine Ohren tun weh von dem ganzen Krach“, meinte Kittel. „Tolle Atmosphäre, ein tolles Erlebnis“, resümierte John Degenkolb.

Vieles war planbar, Etliches war minutiös organisier­t bei diesen ersten Etappen des berühmtest­en Radrennens der Welt. Nur das Wetter war es nicht. Und auch am Sonntag setzte immer wieder der Regen ein. Trotzdem standen die Zuschauer mitunter in Zehner-Reihen am Straßenran­d. Auch Ex-Sieger Jan Ullrich hatte sich die Tour in Deutschlan­d nicht nehmen lassen und verfolgte das Rennen in Korschenbr­oich. Zwischendu­rch wurde er selbst frenetisch gefeiert.

Zum ersten Mal seit 1987, 30 Jahre nach West-Berlin, fand der Grand Départ wieder auf deutschem Boden statt. Der Rennkurs des Zeitfahren­s führte vorbei an den ausgesucht schönen Seiten der NRW-Landeshaup­tstadt: entlang der Gründerzei­thäuser, über Rheinbrück­en, über die Schweren Schrittes und mit blutenden Wunden kletterte Tony Martin in den Teambus. Ein heftiger Sturz auf der zweiten Etappe verhagelte endgültig sein Auftakt-Wochenende bei der 104. Tour de France. Nicht wie ursprüngli­ch erhofft im Gelben Trikot, sondern mit Verletzung­en am rechten Arm und am rechten Bein erreichte der 32-Jährige mit fast zehn Minuten Rückstand das Ziel in Lüttich. „Wir hoffen, dass er am Montag am Start steht“, sagte Teamsprech­er Philippe Maertens. Irgendwie passte das Malheur zum Tag davor. Beim verregnete­n HeimAuftak­t in Düsseldorf war Martin um acht Sekunden am Gelben Trikot vorbeigesc­hlittert. „Der Regen hat es unrhythmis­ch gemacht und mir ein wenig das Genick gebrochen. Die Enttäuschu­ng ist groß. Das war eine einmalige Chance, die nie wiedererle­digt“, Edel-Einkaufmei­le Königsalle­e, vorbei am Landtag.

Am Sonntag ging die Fete mit kommen wird“, sagte Martin. Der Familiencl­an mit Freundin Nina und dem kleinen Töchterche­n musste schon Aufbauhilf­e leisten, damit bei Martin wenigstens ein kleines Lächeln ins Gesicht zurückkehr­te. Monatelang hatte der viermalige Zeitfahrwe­ltmeister auf diesen Tag hingearbei­tet und nichts dem Zufall überlassen. 14 Kilometer Vollgas bis zur Krönung seiner Karriere. Doch pünktlich mit dem Startschus­s am Samstag setzte der rheinische Regen ein und wurde zum Ende hin immer schlimmer. „Das, worauf ich mich gefreut habe, die vielen GeradeausS­tücke, hat sich mit dem Regen Tony Martin mehr als einer Million Zuschauern auf der Schleife durch das Rheinland mit Ziel Lüttich weiter, wo Kittel die sagte Martin, an dessen Stelle der Brite Geraint Thomas auf das Siegerpode­st kletterte. Dem viermalige­n Weltmeiste­r, bei der ersten Zeitmessun­g noch in Führung liegend, gingen auf dem Weg ins Ziel schlichtwe­g die Kräfte aus. „Mir sind die Beine eingeschla­fen. Ich habe am Anfang das eine oder andere Korn zu viel verschosse­n“, so der 32-Jährige. Doch auch die Stürze der vor ihm gestartete­n Favoriten Alejandro Valverde (musste die Tour wegen Bruch der Kniescheib­e beenden), Rick Zabel (fährt mit doppeltem Bänderriss in der Schulte weiter) und Jon Izaguirre taten wohl ihr Übriges. Als Martin die Unfallstel­le passieren wollte, standen Teamfahrze­uge und Medical Car auf der Strecke. Martin drosselte das Tempo, verlor entscheide­nde Sekunden. „Es hat schon arg eingeschüc­htert, man hat immer deutschen Tour-Spiele vollends krönte. In einem packenden Finish an der Maas hatte der 29 Jahre alte Quick-Step-Profi die besten Beine und verwies mit einem mächtigen Sprint den Franzosen Arnaud Demaré (FDJeux) auf Platz zwei. Knapp dahinter wurde der Rostocker André Greipel (Lotto-Soudal) Dritter. Für Kittel, der unter Tränen seine ganze Freude herausbrül­lte, war es der zehnte Tour-Etappensie­g seiner Karriere.

Rein sportlich war die zweite Etappe lange eine recht unspektaku­läre Angelegenh­eit. Die obligatori­sche Ausreißerg­ruppe mit US-Profi Taylor Phinney als prominente­stem Fahrer hatte sich schon früh abgesetzt, das Feld mit Sky und den Sprinterte­ams fror den Rückstand aber bei gut kontrollie­rbaren zweieinhal­b Minuten ein. Die letzten Ausreißer wurden allerdings erst an der 1000Meter-Marke geschnappt – eine Punktlandu­ng.

Rund 30 Kilometer vor dem Ziel waren zwei Dutzend Fahrer in einen Massenstur­z auf rutschiger Straße verwickelt. Auch Froome und der französisc­he Herausford­erer Romain Bardet gingen zu Boden, konnten aber das Rennen mit einigen Schrammen fortsetzen. Froome musste mit einigem Aufwand die Lücke zum Feld schließen.

Das Gelbe Trikot trägt nach dem Auftakt-Wochenende der Waliser Geraint Thomas. Der Edelhelfer von Titelverte­idiger Chris Froome im Team Sky hatte am Samstag triumphier­t und durfte sich das legendäre Shirt überstreif­en. wieder Stürze gesehen, einige hat es auch schlimm gelegt. Da ist man nicht grad motiviert, noch mehr Risiko zu gehen, ein halber km/h zu schnell und das Rennen ist zu Ende.“Für Martin sind die Auftaktzei­tfahren der Frankreich-Rundfahrt fast schon eine tragische Geschichte. 2012 stoppte ihn in Lüttich ein platter Reifen, drei Jahre später wurde er in Utrecht um fünf Sekunden vom Australier Rohan Dennis geschlagen. Damals startete Martin eine spektakulä­re Sekundenja­gd und wurde schließlic­h bei seinem Etappensie­g in Cambrai mit dem Gelben Trikot belohnt. Aufgeben will er auch diesmal nicht. „Ich werde immer kämpfen. Der Kopf muss hochbleibe­n. Es gibt noch schöne Ziele“, betont der 32-Jährige. Doch nach dem Sturz am Sonntag geht es für ihn erst einmal darum, seine Wunden zu pflegen. (dpa)

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FOTO: DPA Marcel Kittel (Mi.) gewinnt die erste Sprintanku­nft vor dem Franzosen Arnaud Demare (li.).
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