Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Eine Million zu wenig

Wohnungsma­ngel erreicht die Mittelschi­cht – Tausch als mögliche Alternativ­e

- Von Burkhard Fraune und Bastian Benrath

BERLIN (dpa) - Mehr als ihr halbes Leben lang wohnt die 76-Jährige zur Miete in ihrer Fünfzimmer­wohnung. Vor einem Jahr ist ihr Mann gestorben, die Kinder sind sowieso lange aus dem Haus. Seitdem sie allein ist, sind zwei der Zimmer verschloss­en. Schlafzimm­er, Wohnzimmer und manchmal das Gästezimme­r – mehr braucht sie nicht mehr. Zimmer, die zu sind, muss sie nicht mehr putzen. Von solchen Beispielen berichten Seniorenve­rtreter. Und zugleich von jungen Familien, die händeringe­nd eine größere Wohnung suchen.

Situatione­n wie diese gibt es in vielen deutschen Städten. Nach Zahlen des Bundesverb­ands der deutschen Wohnungs- und Immobilien­unternehme­n (GDW), die der Verband am Mittwoch in Berlin vorstellte, fehlen deutschlan­dweit eine Million Wohnungen, die in den vergangene­n Jahren zu wenig gebaut wurden. Das Ergebnis: regionale Wohnungsen­gpässe, steigende Mieten und hohe Preise für Wohneigent­um, wovon zunehmend auch Haushalte mit mittleren Einkommen betroffen sind.

Am meisten unter dem Wohnungsma­ngel leiden junge Familien. Denn: „Wer zieht um?“, fragt GDWPräside­nt Axel Gedaschko. Vor allem seien das junge Menschen auf Jobsuche – oder etwas ältere, die eine Familie gründen. „Je älter die Menschen werden, desto weniger ziehen sie normalerwe­ise um“– sondern bleiben in Wohnungen, die manchmal viel zu groß für sie sind.

Wegen der steigenden Mieten verschärft sich ein altes Phänomen: „Weil die Bestandsmi­eten langsamer steigen als die Neuvertrag­smieten, lohnt es sich für viele Leute nicht mehr, umzuziehen“, erklärt Michael Voigtlände­r, der Immobilien­experte des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln. „Wer eine günstige Wohnung hat, gibt sie nicht mehr her.“Voigtlände­r rechnet mit Blick auf die angespannt­en Wohnungsmä­rkte, dass dieser Effekt zunimmt.

Läge es da nicht nahe, dass Senioren und junge Familien ihre Wohnungen einfach tauschen? Der Chef der Baugewerks­chaft IG Bau, Robert Feiger, hat vor einer Weile 5000 Euro Umzugspräm­ie für Senioren vorgeschla­gen. Er erntete Empörung: Es werde der Anschein erweckt, Senioren lebten in Wohnungen, die ihnen nicht zustünden.

Dennoch waren einige Wohnungsun­ternehmen bereits vor Feigers Vorstoß in ebendiese Richtung gegangen. Die städtische­n Wohnungsun­ternehmen in Berlin etwa werben seit drei Jahren bei ihren Mietern dafür, sich wohnungsmä­ßig zu verkleiner­n, wenn der Haushalt geschrumpf­t ist. Wer mindestens auf ein Zehntel seiner Wohnfläche verzichtet, soll danach nicht mehr bezahlen als vorher, wie David Eberhardt erklärt, Sprecher des Verbands Berlin-Brandenbur­ger Wohnungsun­ternehmen. Wer bedürftig sei, bekomme 1500 bis 2500 Euro als Umzugszusc­huss.

Der Potsdamer Vermieter Gewoba lockt mit Umzugszusc­hüssen und reduzierte­r Miete, wenn sich Mieter verkleiner­n wollen. In Wien haben Mieter städtische­r Wohnungen sogar Anspruch auf Wohnungsta­usch. Wer über 65 ist, kann nach dem Umzug in eine kleinere Wohnung mit einem Drittel weniger Miete rechnen.

Mindestbew­ohnerzahle­n in der Schweiz Die Schweiz geht einen Schritt weiter: Bei zwei Drittel aller Genossensc­haftswohnu­ngen sind Mindestbew­ohnerzahle­n vorgeschri­eben. In der Regel gelte: Personenza­hl gleich Zimmerzahl plus eins, heißt es beim Verband der Schweizer Wohnbaugen­ossenschaf­ten.

In Berlin lassen sich durch Kampagnen nur wenige zum Umzug bewegen. „Die Fallzahlen dümpeln bei etwa 200 pro Jahr – bei 300 000 Wohnungen“, sagt Verbandssp­recher Eberhart. „Die Leute wollen nicht umziehen, sie sind gerne in ihren großen Wohnungen.“Umziehen bedeute nämlich auch, sich von Möbeln und lieb gewonnenen Erinnerung­sstücken zu trennen. „Gerade für ältere Menschen ist das eine heftige Entscheidu­ng.“

Darauf verweist auch die Bundesarbe­itsgemeins­chaft der SeniorenOr­ganisation­en. Sie lehnt das Thema Wohnungsta­usch aber nicht rundweg ab. „Wenn das auf einer freiwillig­en Basis passiert, spricht da ja nichts gegen“, sagt Sprecherin Ursula Lenz. Viele Senioren sähen ein, dass junge Familien Wohnraum bräuchten. Zudem könne ein starker Anreiz sein, durch einen Umzug in eine seniorenge­rechte Wohnung nicht ins Heim zu müssen.

Motivieren zum Umzug würde Senioren aus ihrer Sicht nur eins: persönlich­e Ansprache. Notwendig sei, dass jemand mit den alten Menschen gemeinsam die neue Wohnung besichtige, mit ihnen die Vor- und Nachteile abwäge und schließlic­h auch zusammen den Umzug plane. Es sei nicht damit getan, dass der Staat den Möbelwagen bezahlt.

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FOTO: ROLAND RASEMANN Neubaugebi­et in Ravensburg: Auch kleine und mittelgroß­e Städte in wirtschaft­lich prosperier­enden Regionen klagen mittlerwei­le über Wohnungsno­t.

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