Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Atomreakto­r der Marke Eigenbau

Während des Zweiten Weltkriegs forschten Physiker im Felsenstäd­tchen Haigerloch zu Kernspaltu­ng – Ein Museum zeugt von den Versuchen

- Von Lena Müssigmann

HAIGERLOCH (lsw) - Eine 20 Meter mächtige Schutzschi­cht aus Fels hatten sich Forscher für ihre riskanten Experiment­e ausgesucht: In einem ehemaligen Bierkeller in Haigerloch (Zollernalb­kreis) tüftelten Physiker Ende des Zweiten Weltkriegs gut geschützt vor feindliche­n Angriffen an der Kernspaltu­ng. Sie arbeiteten in der Annahme, sie könnten weltweit die Ersten sein, denen das Experiment gelingt. Dass die Amerikaner längst weiter waren und die Forscher im Fels nur mäßige Erfolge erzielten, hat das Städtchen wohl vor verheerend­en Angriffen bewahrt. Heute ist der Keller ein Museum: Im Boden ist ein Nachbau des Atomreakto­rs eingelasse­n, ein Aluminiumk­essel mit gut zwei Metern Durchmesse­r. Die Forscher um den Physiker und Nobelpreis­träger Werner Heisenberg wollten den experiment­ellen Nachweis erbringen, dass eine Kettenreak­tion in einem Reaktor möglich ist. Sie waren nah dran: Es gelang ihnen, im Kessel Atomkerne zu spalten, doch eine sich selbst erhaltende Kettenreak­tion kam nicht zustande. Wofür die Kernspaltu­ng nützlich sein könnte, hatten sie allenfalls im Hinterkopf, sagt der Haigerloch­er Museumsbet­reuer und Physiker Egidius Fechter. Sie hätten etwa an Schiffsant­riebe gedacht. „Ihr Ziel war nie, eine Bombe zu bauen“, sagt er.

Warum sind die Wissenscha­ftler ausgerechn­et nach Haigerloch gegangen? Einer der beteiligte­n Forscher kam aus Tübingen und hatte den Standort womöglich ausgekunds­chaftet, wie der Direktor des Museums der Universitä­t Tübingen, Ernst Seidl, sagt. Vorteile des Labors aus Seidls Sicht: die Abgelegenh­eit, die Lage im Muschelkal­k-Fels, der geringe Aufwand – schließlic­h hatte der Felsenkell­er einen ebenerdige­n Eingang – und die Lage direkt unter einer Kirche.

An den Wänden erzählen Tafeln von den Forschern. Sie hießen Carl Friedrich von Weizsäcker, Karl Wirtz, Erich Bagge, um nur einige zu nennen. Allesamt begeistert­e Naturwisse­nschaftler. Und Nazis? Bagge ist in der NSDAP gewesen, wie Fechter sagt. Als Beamte seien manche der Forscher zur Mitgliedsc­haft gezwungen gewesen. Von überzeugte­n Nazis wolle er nicht sprechen.

Fasnet im Atomkeller Fechter ist in Haigerloch aufgewachs­en, doch vom Atomkeller in seiner Heimatstad­t erfuhr er lange kein Sterbenswö­rtchen. „Die Leute wussten bei Kriegsende, dass hier was war, aber nicht was“, sagte er. Ende der 1970er-Jahre wurden in dem Keller Feste und Fastnacht gefeiert. Erst 1980 wurde er zum Museum ausgebaut. Der Keller ist deutschlan­dweit einzigarti­g, es gebe keine Atomforsch­ungsanlage aus dieser Zeit an Originalst­elle, so Fechter. Doch das Geheimlabo­r hat fast zur Katastroph­e für die kleine Felsenstad­t geführt. Denn im April 1945 marschiert­en die Alliierten in Haigerloch ein, entdeckten das Labor und wollten den ganzen Keller sprengen, wie Fechter erzählt.

Doch auf dem Felsmassiv steht die Schlosskir­che der Stadt, schon damals seit mehr als 300 Jahren. Der damalige Stadtpfarr­er, so erzählt es Fechter, konnte erreichen, dass die Soldaten von ihrem Plan abrückten. Immerhin sprengten sie den Reaktorkes­sel – seine verbogenen Überreste sind heute noch im Museum zu sehen.

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FOTO: DPA Direkt unter der Schlosskir­che lag der Atomkeller.

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