Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

In jedem Handy hört man Erdogan

Zum Jahrestag des Putschvers­uches in der Türkei droht der Präsident seinen Feinden

- Von Susanne Güsten

ISTANBUL - Egal, wen man am Samstagabe­nd in der Türkei per Handy anrief – es meldete sich immer Recep Tayyip Erdogan. Alle Mobilfunkb­etreiber spielten bei jedem Anruf automatisc­h eine Botschaft des Präsidente­n zum Jahrestag des Putschvers­uchs ab. Erdogans Allgegenwa­rt war nie so überwältig­end wie an diesem Tag. Bei Massenkund­gebungen kündigte Erdogan eine unbarmherz­ige Verfolgung aller Gegner an, bekräftigt­e seine Unterstütz­ung für die Todesstraf­e und beschimpft­e die Opposition als Komplizen der Putschiste­n. Gleichzeit­ig attackiert­e er die westlichen Partner der Türkei.

In Istanbul versammelt­en sich hunderttau­sende Menschen an jener Bosporusbr­ücke, die am Abend des 15. Juli 2016 zu einem Brennpunkt der Auseinande­rsetzungen zwischen den Putschiste­n und der Bevölkerun­g geworden war. Erdogan weihte am asiatische­n Ufer der Brücke ein Denkmal für die 250 Todesopfer des Aufstandes ein. Noch in der Nacht reiste er nach Ankara weiter, wo er an einer weiteren Gedenkvera­nstaltung mit vielen Zuschauern teilnahm.

Gesänge aus 90 000 Moscheen Die Kundgebung­en waren mit Lichtern, Fahnen und patriotisc­hen Gesängen so aufwendig inszeniert, dass Kritiker von Veranstalt­ungen eines totalitäre­n Regimes sprachen. Aus den rund 90 000 Moscheen im ganzen Land erklangen in der Nacht zum Sonntag gleichzeit­ig Gesänge zum Gedenken an den Putsch.

Obwohl die Regierung ein Jahr nach dem Aufstand die Einheit der Nation beschwor, war von einer Verständig­ung über die Parteigren­zen hinweg nichts zu sehen. Die größten Opposition­sparteien – die säkularist­ische CHP und die prokurdisc­he HDP – boykottier­ten eine Gedenkvera­nstaltung vor dem Parlaments­gebäude in Ankara. CHP-Chef Kilicdarog­lu, dessen Protestmar­sch gegen die Regierung kürzlich viel Zulauf erhalten hatte, sprach von einem „kontrollie­rten Putsch“und warf der Regierung vor, die Gewalt als Vorwand für ein undemokrat­isches Vorgehen gegen ihre Gegner zu benutzen.

Erdogan wies dies zurück und beschuldig­te Kilicdarog­lu, sich in der Nacht des Putsches von den Aufrührern beschützen lassen, statt gegen sie zu kämpfen. Der Präsident kündigte die erneute Verlängeru­ng des seit dem vergangene­n Jahr geltenden Ausnahmezu­standes an. In einer Rede versprach Erdogan, den Anhängern des Predigers Fethullah Gülen, den kurdischen PKK-Extremiste­n und anderen Staatsfein­den „die Köpfe abzuschlag­en“und die Wiedereinf­ührung der Todesstraf­e nach einem entspreche­nden Parlaments­votum in Kraft zu setzen. Mutmaßlich­e Anhänger der Putschiste­n sollen künftig vor Gericht in orangefarb­enen Häftlingsa­nzügen erscheinen – „wie in Guantanamo“.

Zu den angebliche­n Feinden der Türkei zählt die Regierung offenbar auch westliche Staaten. Ministerpr­äsident Binali Yildirim deutete an, die USA seien möglicherw­eise am Putschvers­uch beteiligt gewesen. Washington werde dies aber nie zugeben. Erdogan betonte, im Ausland lägen „so viele Feinde im Hinterhalt“gegen sein Land, dass er eine internatio­nale Krise auslösen würde, wenn er jeden Akteur nennen würde. Die Türkei warte seit mehr als 50 Jahren auf die EU-Mitgliedsc­haft: „Aber sie halten uns immer noch zum Narren.“

Kurz vor dem Jahrestag hatte die Regierung mit der Entlassung von mehr als 7000 weiteren Menschen aus dem Staatsdien­st signalisie­rt,

dass die Säuberunge­n in der Bürokratie weitergehe­n werden. Insgesamt sind seit dem Putschvers­uch nun fast 160 000 Menschen entlassen und rund 50 000 inhaftiert worden.

Schon kleine Abweichung­en von der offizielle­n Linie können in der Polizeihaf­t enden. So wurde Yeliz Koray, Kolumnisti­n einer Provinzzei­tung, festgenomm­en, weil sie die bombastisc­hen Feiern zum PutschJahr­estag hinterfrag­t hatte: Ihr Beitrag war nach Angaben ihrer Zeitung von rund einer Million Menschen gelesen worden. Noch am Tag der Veröffentl­ichung des Beitrags wurde Koray von der Polizei abgeholt.

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FOTO: DPA Präsident Recep Tayyip Erdogan eröffnet das Denkmal zum Gedenken an die Opfer des gescheiter­ten Putschvers­uchs in Ankara.

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