Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Begegnung in Sachsenhausen
Brandenburger Schüler drehen einen Film – Aufklärungsarbeit über sowjetische Speziallager
ORANIENBURG (dpa) - „Erst mal bin ich froh, dass ich hier gesund und munter sitze und mit Euch arbeiten kann“, sagt der 87-jährige Brandenburger Reinhard Wolff zur Begrüßung der Schüler. „Es gibt nicht mehr viele Zeitzeugen, die noch leben oder in der Lage sind, über ihre Zeit in den sowjetischen Speziallagern zu berichten.“Wolff dreht seit dem vergangenen Herbst mit 18 Oranienburger Oberstufenschülern einen Dokumentarfilm über seine knapp dreijährige Haft im Speziallager Sachsenhausen. Als 16-Jähriger war er in seinem Heimatdorf bei Altlandsberg östlich von Berlin kurz nach Kriegsende als angeblicher „Werwolf“verhaftet worden.
60 000 Häftlinge der Sowjets In dem ehemaligen Konzentrationslager hatte das sowjetische Militär knapp 60 000 NS-Funktionäre, SSAngehörige und auch Tausende willkürlich Verhaftete eingesperrt. Von ihnen sind 12 000 an Hunger und Krankheiten gestorben. Damit wollte die Militärverwaltung auch Widerstand im besetzten Deutschland unterbinden. „Mich interessiert das, weil das direkt hier bei uns geschah“, sagt die 17-jährige Martha Rubenstahl zu ihrer Motivation, an dem Film mitzuarbeiten. „Es ist kaum vorstellbar, dass dies hier mitten in der Stadt geschah – und keiner hat was gesagt oder will auch nur was gewusst haben.“
Die Schülergruppe hatte bei den Vorarbeiten zum Film Verwandte und Bekannte zu ihrem Wissen über das Speziallager befragt. „Das Ergebnis war wenig bis nichts“, erzählt Projektteilnehmerin Constanza Filler. Ihre Mitschülerin Martha hat zwar Verständnis dafür, dass sich nur wenige offen aufgelehnt haben. „Da musste man ja mit schlimmen Konsequenzen rechnen“, sagt sie. „Aber zu sagen, 'Ich wusste das nicht’, das finde ich schon zum Teil – frech!“
Die Speziallager waren zu DDRZeiten ein Tabuthema, auch Wolff konnte erst nach der Wende offen darüber sprechen. Seitdem engagiert er sich als Zeitzeuge. Das Tabu aus DDR-Zeiten wirke bis heute fort, sagt Gedenkstättenlehrer Uwe Graf. An den Schulen werde dieses Thema zuwenig beachtet. „Ich habe bei manchen Kollegen den Eindruck, dass diese Lager aus ihrer Geschichte her keinen Stellenwert haben“, sagt der Geschichtslehrer.
Die Schüler haben auf dem Gelände der Gedenkstätte gedreht und sind mit Wolff auch in die Haftzelle gegangen, in die er mit anderen Gefangenen eingesperrt wurde, nachdem er Essen gestohlen hatte. Hinzu kommen Interviews mit Experten. Der Film soll nach seiner Uraufführung am 16. September zum 72. Jahrestag der Errichtung des Speziallagers bei der Arbeit der Gedenkstätte eingesetzt werden.
Die Arbeit mit Schülern hat in Sachsenhausen oberste Priorität. „Im vergangenen Jahr hatten wir knapp 3000 Führungen mit ungefähr 69 000 Teilnehmern, hinzu kamen fast 300 Projekttage“, sagt der Sprecher der Stiftung Gedenkstätten, Horst Seferens. Etwa 80 Prozent seien Schüler, davon ein Drittel aus dem Ausland. „Das Interesse ist groß aber ebenso groß ist auch das Nichtwissen“, sagt er.
Bezug zur eigenen Geschichte Bei dieser Arbeit gehe es nicht nur darum, die Erinnerung an die Verbrechen in den Lagern und das historische Wissen auch bei der mittlerweile Urenkel-Generation aufrechtzuerhalten.
Es gebe für die Schüler aber natürlich auch Bezugspunkte zur eigenen Geschichte. „Zum Beispiel die Frage: Wie gehe ich mit Flüchtlingen um?“Viele der KZ-Insassen etwa hätten nicht aus Deutschland fliehen können oder seien nach den Eroberungen der Wehrmacht dorthin gebracht worden. Es gehe auch um die persönliche Verantwortung jedes einzelnen Staatsbürgers. „Demokratie fällt nicht vom Himmel und ist stets gefährdet“, sagt Seferens. „Die Schüler lernen am Nationalsozialismus und den Folgen, was schlimmstenfalls möglich ist.“